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Ob Bildungs-, Energie-, Migrations- oder Wohnungsbaupolitik – die Bundesrepublik steht am Kipppunkt. Ein realistisches Erwartungsmanagement ist nötig.
Wer hätte es je für möglich gehalten, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz, einst Bundesfinanzminister, angetrieben von seinem „Respekt“-Gerede so den wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten seines Kanzleramts versagt? Das ist insbesondere bei einem Mann, der sich rühmt, Erster Bürgermeister der seit jeher kaufmännisch orientierten Stadt Hamburg gewesen zu sein, vollkommen unverständlich.
Die Kumulierung der wirtschaftspolitischen Probleme kann zu einer Demokratiekrise führen
Auch das Basta-Gerede von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert verkennt die Dramatik der Sachlage. Deutschland wird lernen müssen, wie fatal es sein kann, sich aus rein parteitaktischen Gründen an sozialpolitischen Fehlentscheidungen festzuklammern. Jüngstes Beispiel: die sachwidrige Ausdehnung des Bürgergelds, die mittlerweile selbst vom politisch unverdächtigen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) empirisch hinreichend nachgewiesen ist.
Die in solchen Momenten von Vertretern der selbst erklärten „Fortschrittskoalition“ zur Verteidigung des politischen Status quo etwa in der Energie- und Sozialpolitik leichtfertig dahingesagte Sentenz „Das ist doch jetzt durch!” wird zunehmend zu einem Fluch für Deutschland. Es meint nichts anderes, als den Kopf in den Sand zu stecken.
Wenn wir als Bundesrepublik noch mit einem Minimum an Realitätssinn ausgestattet sind, sollten wir begreifen, dass die Jahresmitte 2024 für Deutschland einen Kipppunkt darstellt. Die Kumulierung der wirtschaftspolitischen Probleme kann zu einer ernsthaften Demokratiekrise führen. Das spielt den immer rechtsextremeren und durchgängig russlandhörigen Funktionären und Mandatsträgern der AfD sowie anderen radikalen Kräften in die Hände. Niemand kann das wollen.
Die Mängelliste ist lang: stagnierendes Wachstum, rückläufige Produktivität, fallende Direktinvestitionen, eine fortdauernde Nicht-Wohnungsbaupolitik, der stetige Verlust von Bildungsqualität, ein kontinuierlicher Hang zur Überakademisierung, der damit einhergehende Verlust von wirtschaftlich verwertbarer Bildung und ein stetig wachsender staatlicher Finanzbedarf bei deutlich abnehmender Erwerbsbevölkerung. All das ist gepaart mit einer Politik, die großspurig auf „Rechtsansprüche“ baut, ohne über die hierfür erforderlichen Finanzmittel und das Arbeitskräftepotenzial zu verfügen.
Deutsche „Sonderwege“ haben noch nie besonders gut funktioniert
Als massiver Kipppunkt kommt die verfehlte Migrationspolitik hinzu. Seit rot-grünen Zeiten gibt es den Plan, Fachkräfte aus dem Ausland anzuziehen. Gelungen ist da wenig. Stattdessen gibt es eine weitgehend ungeregelte Migration, die zu dauerhaft hohen Belastungen für den Sozialstaat führt und kaum zur dringend benötigten Steigerung der Produktivität unserer Volkswirtschaft beitragen wird. Was das für die Finanzierbarkeit der künftigen Renten bedeutet, kann man sich schon heute genau ausrechnen.
Ein weiterer Kipppunkt ist die Energiepolitik, bei der wir frohen Mutes weiterhin einen deutschen Sonderweg verfolgen. Dabei ist das mit den Sonderwegen in der deutschen Geschichte nie gut gegangen. Es fehlt bei der Energiewende immer noch an verlässlichen Aussagen zur Zeit- und Mengenachse. In puncto Kosten sind wir schlichtweg nicht ehrlich aufgestellt. Die Ampel blendet die von den Bürgern zu tragenden Systemkosten unserer Erneuerbare-Energien-Strategie konsequent aus. Das wird den Grünen wohl schon bald schwer auf die Füße fallen.
Zudem mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich der quasi als Allheilmittel beschworene grüne Wasserstoff zumindest für lange Zeit als kaum bezahlbares oder in hinreichenden Mengen verfügbares Luftschloss erweisen wird.
Statt angesichts der weltwirtschaftlich für Deutschland deutlich veränderten Umstände ein realistisches Erwartungsmanagement zu betreiben, versuchen zwei der drei Regierungsparteien noch immer, sich in einem gegenseitigen Überbietungswettbewerb beim Soufflieren von immer schöneren sozialen Wohltaten zu überbieten.
Und die FDP? Sie schreckt vor dem Manöver, die Notbremse zu ziehen, in entscheidenden Momenten immer wieder zurück – so wie besonders eklatant bei der „Rentenreform“.
Kein Wunder, wenn deutsche Unternehmen – inklusive des Mittelstands – angesichts des mangelnden Realitätssinns der Regierungspolitik jetzt das Weite suchen und Handwerksbetriebe statt Generationswechsel einfach schließen.
Was die Stunde geschlagen hat, lässt sich daran ablesen, dass die SPD in erheblichem Maß Wähler an die AfD verliert und immer mehr Gewerkschafter AfD-Wähler sind – eine fatale Entwicklung. Es wird höchste Zeit, dass die Ampel erkennt: Die Dinge schönzureden hat keinen Sinn mehr. Wir müssen schnellstens zurück zu einem effizienten und infrastrukturell gut aufgestellten Deutschland.