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Brexit: Eine Wiederholung des Diktatfriedens von 1919 in Versailles?

August 24, 2018 by Stephan-Götz Richter

Flag, United Kingdom, Uk, Britain, England, Europe

Erschienen in Wirtschaftswoche (PDF)

Dass die EU beim Brexit auf die Einhaltung europäischer Regeln insistiert ist kein Akt der Bestrafung oder gar Rachsucht. Es ist eine Frage der europäischen Staatskunst.

 

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat gerade eine ernste Warnung ausgesprochen. “Ein demütigender Brexit-Deal riskiert ein weimarhaftes Großbritannien.”   Er sieht die Gefahr, dass “eine mildere, bürokratische, wenngleich friedliche Version des Versailler Vertrags, der Deutschland auferlegt wurde”, auf Großbritannien zusteuert.

 

Damit bringt er ein ganzes Jahrhundert ganz bewusst die politisch sehr geladene Frage eines Diktatfriedens wieder ins Spiel. Dieses Alarmschlagen erstaunt, denn Garton Ash ist kein Brexit-Befürworter. Auch andere britische Liberale stoßen aktuell ins gleiche Horn. So hat Charles Grant, Direktor des Londoner Centre for European Reform, ein weiterer pro-europäischer Liberaler, vor kurzem davon gesprochen, dass die EU Großbritannien zu einem „Vasallenstaat“ machen will.

 

Die Nerven liegen offensichtlich blank. In der Tat liegt das Versailles-ähnliche Demütigungsargument bereits seit über einem Jahr rhetorisch in der Luft. Im Grunde war es seit dem Tag überfällig, als BBC-Interviewer ihre EU-Gesprächspartner regelmäßig danach zu fragen begannen, warum die EU Großbritannien für den Brexit “bestrafen” wollte (und zwar indem sie dem Land nicht einfach den “maßgeschneiderten” Deal, den Frau May anbot, einging).

 

Obwohl das Weimar-Argument eine bewusst gewählte Zuspitzung ist, sollte man es nicht einfach vom Tisch wischen. Schließlich hat Europa einen großen Teil des 20. Jahrhunderts damit verbracht, die bösen Geister hinter sich zu lassen, die der extrem einseitige Versailler Vertrag nach 1919 hervorrief.

 

In London ist man in beiden politischen Lagern (pro- und contra-Brexit) offensichtlich darüber konsterniert, dass die jahrzehntelang anhaltenden Sonderdeals für das Vereinigte Königreich nicht länger angeboten werden. Das wirft strategische, wirtschaftspolitische und historische Fragestellungen auf, die es zu beantworten gilt.

 

In seiner geradezu visionären Abhandlung “The Economic Consequences of Peace” wies John Maynard Keynes, der hochangesehene britische Ökonom, bereits im Jahr 1919 auf den wesentlichen Mangel des Versailler Vertrages hin. Dieser bewirkte nämlich das Gegenteil von dem, was Europa damals wirklich brauchte – ein integriertes Wirtschaftssystem für den Kontinent. Das ist damals wie heute das Ziel, das Europa anstreben muss.

 

Der große Unterschied zwischen damals und heute besteht darin, dass Europa seit 1957 im Wesentlichen auf der Grundlage eines solchen “Vertrags” operiert, nämlich der EU und all ihren Regeln und Vorschriften.

 

Clubs und ihre Geschäftsordnungen

 

Dem Vereinigten Königreich steht es frei, aus eigenem Antrieb und aufgrund seines Verständnisses von nationaler Souveränität aus diesem Pakt auszutreten. Allerdings muss dies auf der Grundlage der vom Club festgelegten Regeln geschehen.

 

Das sollte niemandem klarer sein als den Briten selbst, denn immerhin gelten diese weltweit als die Erfinder der Clubkultur.

 

Der grundlegende Fehler auf der britischen Seite besteht indes darin, anzunehmen, dass das (Br)Exit-Manöver eine Verhandlung zwischen zwei Gleichgestellten ist. Das ist es nicht. Es ist eine nach den Regularien des Clubs vorzunehmende Vereinbarung zwischen dessen Geschäftsführung und dem ausscheidenden Mitglied.

 

Das Verständnis der Regierung des Vereinigten Königreichs gehen aber noch weit darüber hinaus. Sie betrachtet ihr Land als ein Clubmitglied, das den Club zwar verlassen möchte, dabei aber die meisten Vorteile der Clubmitgliedschaft beibehalten will. Zudem will es in der Zukunft nicht die üblichen Clubgebühren bezahlen (die ohnehin für das Vereinigte Königreich reduziert worden waren).

 

Und als ob das alles nicht atemberaubend genug ist, plant das Vereinigte Königreich – obwohl nicht länger EU-Mitglied – mindestens weiterhin dem Exekutivkomitee des Clubs anzugehören, vorzugsweise mit Vetomacht ausgestattet.

 

Pompös und/oder lächerlich? Ohne Frage. Dennoch ist es eine zutreffende Beschreibung der britischen Verhandlungsposition.

 

Europäische Einheit

 

Die Kühnheit dieses Manövers lässt den Rest Europas sprachlos. Das Streben britischer Politiker nach einem “Europa à la carte” stellt einen Verrat am Kern des Clubwesens dar, demzufolge sich alle Mitglieder den gleichen Regeln unterwerfen.

 

Unter diesen Umständen ist das Festhalten an den etablierten Regeln, wie Michel Barnier es tut, kein Akt der Bestrafung oder gar versailleshafter Rachsucht. Es ist eine Frage der europäischen Staatskunst.

  

Die Tatsache, dass weder die Deutschen noch die Niederländer oder die Polen – die traditionellen Verbündeten des Vereinigten Königreichs in der EU – auf die vermeintlichen Verlockungen aus London eingegangen sind, ist ein wichtiges Signal.

 

Sie verstehen, dass die Wahl zwischen der Befriedigung der Launen Großbritanniens und der Wahrung der Integrität der EU nicht einmal eine Wahl ist. Das Ergebnis ist vorherbestimmt.

 

Die politische Realität ist für die britische Seite aber noch schlimmer. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat die Chance, die Rolle des pragmatischsten, handelsorientierten EU-Mitglieds der EU sehr bereitwillig von Großbritannien übernommen. Er hat es sogar geschafft, weitere sieben EU-Mitglieder für seine Position zu gewinnen.

 

Und selbst die polnische Regierung hat trotz der tiefen Abneigung der PiS-Partei gegenüber Deutschland die potenziell enorm schädlichen wirtschaftlichen Folgen von Donald Trumps Unilateralismus im Handel schnell erkannt. Die florierende Wirtschaft des Landes hängt vom uneingeschränkten Zugang zu den EU-Märkten und insbesondere nach Deutschland ab.

 

Die Macht des Präzedenzfalles

 

Der andere Grund für Festigkeit sollte für die britische Seite besonders offensichtlich sein: So wie die sozialen Traditionen des Landes tief im Clubwesen verankert sind, so hat gerade die britische Rechtstradition dem Land – im Unterschied zur Praxis auf dem Kontinent – eine intime Kenntnis der Bedeutung von Präzedenzfällen verschafft.

 

Und der Präzedenzfall, dieser vermeintliche “kleine“ Kompromiss in Sachen Arbeitskräftemobilität, wäre von immenser Tragweite. Über kurz oder lang würde jedes einzelne der verbleibenden 27 EU-Mitglieder drohen, aus der EU auszutreten, wenn man nicht den einen oder anderen kleinen Kompromiss zugestanden bekommt. Bald würde das gesamte EU-Gebäude wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.

 

Unter diesen Umständen fallen auch Drohungen, wie sie Garton Ash in seiner Argumentation aufgreift, dass man wieder auf “die traditionelle britische Politik des divide et impera auf dem Kontinent zurückgreifen könnte”, völlig flach.

 

In gewisser Weise verhält sich das Vereinigte Königreich heutzutage ein bisschen so wie die Südstaaten in den Vereinigten Staaten im Vorfeld von 1865. Sowohl die britische Regierung von heute wie die der amerikanischen Südstaaten damals wollen sich alle Vorteile eines Verbleibs in der Union erhalten, aber zugleich an den Traditionen festhalten (Feudalismus und Sklaverei im Fall des amerikanischen Südens, unbeschränkte Souveränität im Vereinigten Königreich).

 

Anders als in den USA hat die EU eine “Sezessionsklausel”. Das Vereinigte Königreich muss nicht in den Krieg ziehen, um sich von der Unternehmung zu trennen. Aber für die Kosten der Scheidung – d.h. die Begleichung der bereits eingegangenen Verpflichtungen –  muss es aufkommen. Das ist keine Bestrafung. Das sind nur die Regeln des Vereins.

 

Zeit für pragmatischen Realismus auf der britischen Seite

 

Der “pragmatische Realismus”, den Garton Ash zu Recht einfordert, kann angesichts der oben gemachten Ausführungen realistisch vornehmlich nur auf britischer Seite zum Tragen kommen. Großbritannien sollte endlich einen ernsthaften Versuch unternehmen, die Vorteile und Kosten seiner Mitgliedschaft in der EU zu bewerten.

 

Selbst wenn es keinen anderen Grund gäbe als den nahezu vollständigen Mangel an der erforderlichen Verwaltungskapazität auf Seiten des Vereinigten Königreichs, um einen Brexit mit allem, was dies beinhaltet, zu bewerkstelligen, sollte die Wahl des Vereinigten Königreichs klar sein.

 

Aber für eine Nation, die eine lange Tradition darin hat, immer auf ihr wirtschaftliches Eigeninteresse zu setzen, sollte die Wahl noch klarer sein. Die EU-Mitgliedschaft kommt dem Vereinigten Königreich und seinen Menschen sehr zugute.

 

Dies nicht zuletzt deshalb, weil die britische Industrie ein integraler Bestandteil der europäischen Arbeitsteilung ist und deshalb einen kräftigen Vorwärtsschub erhalten hat. Auch dieser würde mit Brexit verschwinden.

Filed Under: In Print/Online Tagged With: EU, Grossbritannien, Wirtschaftswoche

Stephan-Götz Richter

Stephan-Götz Richter ist Herausgeber und Chefredakteur von "The Globalist", einem Online-Magazin für globale Ökonomie, Politik und Kultur.

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