Erschienen in WirtschaftsWoche (URL)
Deutschland steht nicht gut da im internationalen Vergleich. Die Politik sollte sich von alten Gewissheiten verabschieden und vom Ausland lernen.
Deutsche Politiker, vor allem solche links der Mitte, glauben noch immer, dass es bei der Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik eines Landes nur um eines geht: ausfindig zu machen, was die Schnittmenge der politischen Präferenzen der jeweiligen Regierungskoalition ausmacht und diese dann dem gesamten Land überzustülpen.
Genau das aber ist ein Luxus, den wir uns nicht länger leisten können. Und der obendrein eine Straße ins Abseits ist, was die Ampelregierung nachdrücklich unter Beweis gestellt hat.
Die schleichende Realisierung dieser Tatsache wird zu großen Frustrationen führen. Denn Parteipolitiker bewegen sich ja zumeist im Kokon weitgehend selbstreferentieller Präferenzen, die sie mit ihren Parteimitgliedern und vor allen Dingen mit den anderen Parteiaktivisten und Abgeordneten der Partei teilen. Und wenn sie dann endlich einmal an die Schalter der Macht gelangen, ist es menschlich verständlich, dass sie sicherstellen wollen, ihre langgehegten Wunschvorstellungen auch realisieren zu können.
Dass sich ein Land aber in eine wirtschaftliche Lage hineinmanövriert haben mag, in der es schlicht nicht mehr möglich ist, ein derartiges politisches Wünsch-dir-was zu exerzieren, ist für deutsche Politiker kaum vorstellbar.
Etwas ganz anderes gilt für die Politiker vieler anderer Nationen. Länder, die sich aufgrund der vorherrschenden wirtschaftlichen Umstände nicht auf der Sonnenseite der globalen Gleichung platziert gefunden haben, wie das bei der bisher mit äußerst viel Fortune ausgestatteten Bundesrepublik Deutschland der Fall ist, haben sich selbst und ihre Wähler schon viel länger mit einer großen Dose Realismus an die Enttäuschung übertriebener Erwartungen gewöhnt.
Die Diskussion um das 18-seitige Wirtschaftswende-Papier von Christian Lindner bietet hierfür einen aufschlussreichen Beleg. Jenseits von FDP und CDU wird dieses Dokument keinesfalls als ein weitgehend sinnvolles Reformprogramm betrachtet. Stattdessen wird es kategorisch als Hinwendung zu einer besonderen rüden Form Neoliberalismus gebrandmarkt.
Linders ordnungspolitische Kompetenz
Nun kann man Christian Lindner, der trotz seiner 45 Jahre schon gefühlte drei Jahrzehnte in der Bundespolitik aktiv ist, in vielerlei Hinsicht kritisieren. Zugleich aber muss man feststellen, dass er in den letzten beiden Jahren gerade auch aufgrund guter Berater, mit denen er sich umgeben hat, im Bereich der Ordnungspolitik viel an Kompetenz unter Beweis gestellt hat.
Das gilt auch für seinen hinhaltenden Widerstand gegen die Ausweitung der Schuldenbremse. Denn bei einer SPD-geführten Ampel-Regierung unter der Ägide von Olaf Scholz kann man gesichert davon ausgehen, dass er und seine Partei eine solch mögliche Erweiterung des fiskalpolitischen Spielraums für konsumtive Ausgaben missbrauchen würde. So wie der Bundeskanzler das trotz seiner explizit gegenläufigen Aussagen auch bei der Verwendung des Sondervermögens Verteidigung getan hat.
Wer sich also in dem Unterfangen, sich keinesfalls mit den neuen wirtschaftspolitischen Realitäten der Bundesrepublik Deutschland befassen zu müssen, damit begnügt, Christian Lindner als wild gewordenen Suppenkasper zu porträtieren, den wird das gegenwärtige vermeintliche Vergnügen bald im Hals stecken bleiben.
Denn das der bisherige Bundesfinanzminister hier kein Husarenstück einer Drei-Prozent-Partei zu performen versucht, sondern pure wirtschaftspolitische Vernunft an den Tag legt, belegt ein aktuelles Eurogroup-Dokument der europäischen Finanzminister nachdrücklich. Wer deren Papier liest, wird weiten Teils Deckungsgleichheit mit den meisten Punkten feststellen, die Lindner in seinem Wirtschaftswelt Papier auf den Tisch gelegt hat.
Nun sind die Finanzminister der 27 EU-Länder ja alles andere als willige Claqueure einer kleinen deutschen liberalen Partei. Viel zutreffender sind sie als große Realisten anzusehen, deren berufliche Hauptaufgabe es ist, ihre eigenen Nationen im Koordinatensystem der Weltwirtschaft solide zu positionieren.
Wenn diese Gruppe ein wichtiges Communiqué verfasst, in dem sie im Interesse der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Europas allen Ländern Dinge ins Stammbuch schreiben, wie sie Christian Lindner auch in seinem Wirtschaftswende-Papier für Deutschland aufgezeichnet hat, dann bedeutet das freilich nicht, dass man diese nüchterne Einschätzung der weltwirtschaftlichen Gegebenheiten und den daraus resultierenden politischen Prioritäten teilen muss.
Gewiss können deutsche Politiker weiterhin an der Vorstellung festhalten, dass das, was für andere Nationen gilt, zum Beispiel das konjunkturpolitisch und strukturpolitisch bedingte Gürtel enger schnallen bei Sozialaufgaben und das strategische Investieren in die Zukunft, für unser Land nicht gelten soll.
Allerdings sollten sich alle, die dies vor allem in den Rängen der SPD und der Grünen für Deutschland so propagieren, mit der Frage befassen, dass die EU-Finanzminister ja längst nicht alle strukturkonservative Parteien repräsentieren.
Dessen ungeachtet besteht weiter große Lust, auf die Reformideen, die Lindner formuliert hat, mit großem Eifer einzudreschen. Wobei dieses Eindreschen umso heftiger aus fällt wie große Angst vor der Einsicht in den unvermeidlichen Wandel besteht. Denn das wäre ja auch mit dem schmerzlichen Manöver verbunden, den eigenen Wählern und dem breiteren Wahlvolk gegenüber die neuen wirtschaftlichen Realitäten anzuerkennen.
Und dennoch gilt, dass alle Stützungsversuche des noch amtierenden Bundeskanzlers, gerade von der SPD und den Gewerkschaften durchgepäppelte Unternehmen wie VW sowie Industrien, die schon seit geraumer Zeit dem Strukturwandel hätten ausgesetzt werden sollen, nichts anderes sind als immer verzweifeltere Versuche, etwas aufrechtzuerhalten, was in dieser Form in Deutschland nicht aufrecht zu erhalten ist.
Die Unternehmen selbst handeln da ja viel klüger und weitsichtiger als die verbliebenen Teile der Ampel-Regierung. Denn unabhängig von allen Subventionierungsversuchen von Habeck bzw. Scholz wandern sie mit den energieintensiven Teilen ihrer Produktion zunehmend in solche Länder und Regionen ab, in denen Energiepreise auf Dauer niedriger sind als in Deutschland. Und in denen auch das Gesamtkonzept der Energieversorgung in sich stimmig ist und nicht auf so tönernen Füßen steht, wie das aktuell in Deutschland der Fall ist.
Keine Frage, für deutsche Politiker ist es ein enormer Abstieg in Zukunft die Wirtschafts- und Finanzpolitik unseres Landes nicht länger an parteipolitischen Identitätsspielchen auszurichten, sondern an den objektiv vorgegebenen Reformnotwendigkeiten. Deren Verfolgung mag ihnen sehr widerstreben, aber als Politiker ist es ihre Pflicht, so wie Gerhard Schröder dies – seinem Charakter eigentlich widerstrebend – mit der Agenda 2010 getan hat.
Im Gegensatz zur Grundannahme so gut wie aller Politiker links der Mitte ist Deutschland eben kein reiches Land mehr. Aufgrund mangelnder Reformneigung seit dem Amtsantritt Angela Merkels, der vermeintlichen CDU-Kanzlerin, die zumeist im Antireformer-Tandem mit der SPD regierte, finden wir uns auf absehbare Zeit im Mittelfeld der Wettbewerbsfähigkeit wieder.
Deutschland droht ein weiterer Abstieg
Wenn wir jetzt den Hebel nicht entschlossen zu einem Reformkurs umlegen, wie dies die europäischen Finanzminister (und eben längst nicht nur Christian Lindner) getan haben, wird Deutschland in seinem wirtschaftlichen Status noch weiter absinken.
Gerade mit Blick auf die wirtschaftliche Positionierung Europas im Zeitalter von Donald Trump und eines autoritären und wohl noch mehr auf Nullsummenspiele ausgerichteten, äußerst selbstsüchtigen China unter Xi sollten gerade Politiker links der Mitte, die so gerne und so oft auf Deutschlands europapolitische Verantwortung hinweisen, doch endlich eines erkennen: Wenn Deutschland sich nicht in weiten Teilen dem Reformpaket Lindners folgend auf den Weg macht, wird unser Land weiterhin ein Bremsklotz der europäischen Wirtschaftsentwicklung sein, so wie dies aktuell der Fall ist. In der praktischen Konsequenz eines fortgesetzten Kurses des deutschen Kopf-in-den-Sand-Steckens bedeutet das, dass die europäische Volkswirtschaft auf Gesamtebene aufgrund der Größe der deutschen Volkswirtschaft zum Stillstand verdammt ist.
Und genau damit würde eine gefährliche Entwicklung akzeptiert, die Sozialdemokraten und Grüne gerne behaupten, vermeiden zu wollen. Die inländischen Verteilungskonflikte werden sich nicht nur verschärfen, sondern ohne Wachstum auch martialisch werden.