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Die Amerikanisierung der Berliner Republik

10. September 2017 by Stephan-Götz Richter

Shealah Craighead/White House

Erschienen in Spiegel Online

Bei aller Entrüstung, die wir Deutschen zu Recht über die Undurchdachtheiten, Torheiten und Fiesheiten empfinden, die Donald Trump tagtäglich auf die Weltbühne zaubert, müssen wir uns unbedingt vor einem Übermaß an Selbstgerechtigkeit hüten. Denn der dank Trump naheliegende Gedanke der Überlegenheit des deutschen Modells lässt sich mit einer unangenehmen Tatsache nicht in Einklang bringen: der zunehmenden Amerikanisierung des Politikbetriebes in der Berliner Republik.

Diese „Amerikanisierung“ manifestiert sich in zweierlei Weise: erstens im systematischen Aushebeln des Gemeinwohls im politischen Alltagsgeschäft durch industrielle Partikularinteressen. Und zweitens im permanenten Bestreben der Berliner Galionsfiguren, diese unschöne Entwicklung durch Gefühlsduselei und pure Ankündigungspolitik zu übertünchen.

Was die Amerikanisierung der Berliner Republik dabei umso beklagenswerter macht, ist, dass die deutschen Politiker und Parteien dabei keinen der beiden wichtigsten Rechtfertigungsgründe heranziehen können, auf die sich ihre amerikanischen Widerparte stützen können. Denn in den USA gibt es bekanntermaßen nicht nur keine öffentliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung, sondern auch der Wahlkampf an sich ist dort selbst für einzelne Abgeordnete sehr teuer.

Daher müssen sich amerikanische Politiker und Parteien auf permanente Geldsuche zur Selbstfinanzierung begeben. Das schafft Abhängigkeiten. Kein Wunder, dass sich die Spendenempfänger vor allem in parlamentarischen Ausschusssitzungen dann damit revanchieren, dass sie bestimmte Gesetzgebungsvorhaben entweder vorantreiben oder blockieren – je nachdem, was ihre Geldgeber sehen wollen. Denn selbstverständlich agieren US-Wirtschaftsverbände smart. Sie vergeben Spenden vor allem an Abgeordnete, die in den Ausschüssen sitzen, in denen über Regulierungsmaßnahmen verhandelt wird, die die jeweilige Industrie betreffen.

Das besondere „Wunder“ der Berliner Republik besteht demgegenüber darin, dass dort auf Ausschussebene oftmals dieselben Verhinderungsmanöver stattfinden – allerdings ohne dass die jeweilige Industrie vorher dafür „bezahlt“ hat. Während es sich in den USA um eine söldnerische Transaktion handelt, die nicht nur aus demokratietheoretischen Gesichtspunkten – wegen effektiver Befangenheit und immanenten Interessenskonflikten – höchst bedenklich ist, kann die Berliner Republik zum Selbstschutz von sich behaupten, dass sie nach der reinen Lehre verfährt.

Die Zersetzung einer am öffentlichen Wohl orientierten Demokratie

Im Sinn des Gebens und Nehmens fließt bei uns ja aktuell kein Geld. Das erfolgt meistens erst später, wenn Abgeordnete nach ihrer Mandatszeit dann in sehr viel lukrativere Verbandstätigkeiten wechseln. Mit diesen werden sie dann für mitunter lange Jahre des vorauseilenden parlamentarischen Gehorsams gegenüber bestimmten Verbandsinteressen belohnt.

Das prägnanteste Beispiel für diese Zersetzung einer am öffentlichen Wohl orientierten Demokratie bleibt hierfür der Verband deutscher Automobilhersteller (VDA). Dabei geht es nicht einmal so sehr um das Wirken von dessen Präsidenten und Paradelobbyisten Matthias Wissmann, der ja in letzter Zeit gegenüber seinen Industriebossen sogar Züge der Wahrhaftigkeit an den Tag gelegt hat.

Sehr viel irritierender ist das Verhalten der Bundeskanzlerin. Sie agiert mit Blick auf die Automobilindustrie im Moment so, dass man fast den Eindruck haben könnte, sie bewerbe sich für Wissmanns Nachfolge.

Von ihr kommt so gut wie kein Wort zu den Interessen der betrogenen Verbraucher, außer dass sie davon spricht, dass es seitens der Industrie „unverzeihliche Fehler“ gegeben habe. In Wirklichkeit verzeiht sie aber enorm: Mit aller Kraft verhindert sie das, was im Interesse der gesamten Nation liegt (und auch die gerichtlich drohenden Fahrverbote abwenden könnte) – nämlich die Verpflichtung der Konzerne zur kostenfreien Hardware-Nachrüstung der Dieselfahrzeuge.

Ein solcher Schritt, der trotz Merkels hinhaltenden Widerstands letztlich doch kommen mag, würde das Image und den Selbstanspruch Deutschlands, eine führende Umweltnation zu sein, endlich wieder in Einklang bringen. Stattdessen vertraut Merkel „Softwareupdates“ und stellt die Interessen der Beschäftigten der Automobilindustrie über alles.

Die Gefahr der lobbyzerfressenen Berliner Republik

Auch Merkels immer wieder vorgebrachte These, dass eine echte Umrüstung zu teuer sei und die Fähigkeit der Industrie für Zukunftsinvestitionen untergrabe, verfängt nicht. Denn die Autokonzerne verdienen ja aktuell nicht nur prächtig, sondern können in Zeiten, in denen enorm viel Geld nach attraktiven Anlagemöglichkeiten sucht, gewiss auch am Kapitalmarkt gegebenenfalls erforderliche Mittel leicht einsammeln.

Was an der ganzen Entwicklung – weit jenseits des aktuellen Falls der Automobilindustrie – besonders verstört, ist ein äußerst bedenkliches Ablenkungsmanöver. In Deutschland (und Europa) machen wir uns große Sorgen darüber, dass eine sich in Brüssel ausbreitende Lobby-Krake amerikanischen Stils das politische Geschäft auf europäischer Ebene untergräbt.

Diese Gefahr besteht in der Tat. Dabei unterschlagen wir allerdings eine aus deutscher Sicht sehr viel bedenklichere Tatsache – dass nämlich die Berliner Republik sehr viel mehr lobbyzerfressen ist, als dies in Brüssel zu beobachten ist.

Der Grund für diese Tatsache ist beschämend: Es ist seit Jahren à la mode, zu sagen, dass das Europäische Parlament ein Papiertiger ist und die EU-Kommission nur die Interessen der Großindustrie im Auge hat. In Wirklichkeit schaffen das EU-Parlament und die Kommission eine ganze Menge an Vorlagen, die die legitimen Interessen der Bürger voranbringen.

Im Gegensatz dazu ist es aber häufig die deutsche Bundesregierung, die sich diesbezüglich im Ministerrat und auf der nationalen Verwaltungsebene in Blockademanövern übt. So ist zu erklären, dass ausgerechnet das vermeintlich immer so rechtsstaatlich orientierte Deutschland seitens der EU-Kommission immer öfter vor dem EuGH wegen Vertragsverletzungsverfahren verklagt wird (wie dies etwa bei wegen der steigenden Nitratbelastung des Grundwassers im Landwirtschaftsbereich der Fall ist). Ebenso droht ein solches Verfahren wegen Luftverschmutzung durch Stickstoffdioxid.

Diese Fakten belegen, dass der Deutsche Bundestag – im Unterschied zum Europäischen Parlament – unmutige Einheitssoße verbreitet und dem im gemeinsamen Interesse der Großkoalitionäre betriebenen, einlullenden Gehabe der Bundeskanzlerin nichts entgegensetzen will.

Es ist bezeichnend, dass unsere oberste Naturwissenschaftlerin nun zum vierten Mal im Wahlkampf Aufbruchsgeist zum Thema Digitalisierung verbreitet. Dabei stellt ihr so gut wie niemand ernsthaft die Frage, wer denn wohl in den vergangenen zwölf Jahren die Regierungsgeschäfte geführt hat.

Duckmäuserische Abgeordnete und Visionsredner

Die Art und Weise, in der wir Bürger uns so abspeisen lassen, reflektiert leider auch eine anhaltende Form obrigkeitsstaatlichen Denkens. Die Merkel’sche Art des gefühlsduseligen Schönredens ist aber auch ein weiterer Beleg der Amerikanisierung der Berliner Republik. Bill Clinton hat dies mit seinem – häufig bei reinen Visionen gebliebenen – Gerechtigkeits- und Modernisierungsdenken während seiner Regierungsjahre und auch danach immer wieder bestens vorexerziert. Das Volk hat’s ihm ob der Macht der wohlfeilen Worte gedankt.

Solche Taschenspielertricks duckmäuserischer Abgeordneter und weltlenkender Visionsredner bleiben aber nicht ohne Konsequenzen. Die Amerikaner haben am eigenen Leib erfahren, wohin die modernisierungsfeindliche Lähmung des Politikbetriebes durch die Status-quo-Interessen führt: Sie zieht einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und, damit unmittelbar verbunden, den Verlust von Arbeitsplätzen nach sich.

Beides, so bekennt die Bundeskanzlerin (und zugleich die oberste Praktikantin der Amerikanisierung der Berliner Republik) unablässig mit ihren Worten, will sie unbedingt verhindern. Ihre Taten sprechen eine andere Sprache.

Kategorie: In Print/Online Stichworte: Der Spiegel, Deutschland, USA

Stephan-Götz Richter

Stephan-Götz Richter ist Herausgeber und Chefredakteur von „The Globalist“, einem Online-Magazin für globale Ökonomie, Politik und Kultur.

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