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Brexiteers und Bolschewiki

December 19, 2018 by Stephan-Götz Richter

Britain

Erschienen in Süddeutsche Zeitung (PDF) | Online (Paywall — dort unter der Schlagzeile: Der Herrenklub))

Eine erzkonservative, männliche, zynische Elite führt Großbritannien in den Brexit – ohne Respekt für die Demokratie

* Die Brexit-Hardliner legen eine ähnliche Verachtung der Demokratie an den Tag wie die Bolschewiki während der russischen Revolution vor einem Jahrhundert. Die politische Logik ist damals wie heute dieselbe: Eine einzige Abstimmung muss ausreichen.

* Die Angriffe auf May sind eine ungeschminkte Form des Sexismus. Das, was die erzkonservativen Männer wollen – heraus aus der EU und freier Zugang zum Waren- und Dienstleistungsverkehr, ohne EU-Regularien zu unterliegen – kann niemand liefern.

* Das können sie aber nicht zugeben, denn es würde sie der politischen Impotenz überführen. Daher sind sie froh, sich wenigstens in der Form Satisfaktion zu verschaffen, dass sie jeden Tag auf Frau May draufhauen.

Großbritannien bezeichnet sich gerne als die älteste Demokratie der Welt. Umso befremdlicher ist es, dass die Brexit-Hardliner eine ähnliche Verachtung der Demokratie an den Tag legen wie die Bolschewiki während der russischen Revolution vor einem Jahrhundert. Die politische Logik ist damals wie heute dieselbe: Eine einzige Abstimmung muss ausreichen. Warum? Dürfte die Bevölkerung noch einmal abstimmen, würde das die Fähigkeit der Bolschewiki, heute der Brexit-Hardliner, untergraben, die „Revolution“ allein nach ihrem eigenen Gutdünken zu gestalten.

Boris Johnson und Konsorten sind seit dem 24. Juni 2016 bestrebt, das eher zufällige Ergebnis des am Tag zuvor abgehaltenen Referendums in eine finale Mausefalle zu verwandeln. Final deshalb, weil den Bürgern nun, nachdem die Verhandlungsergebnisse vorliegen, keine zweite Chance zur Meinungsbekundung gegeben werden soll. Wie das mit dem stolzen Selbstanspruch einer Gesellschaft zu vereinbaren ist, die immer wieder betont, enorm viel Wert auf die Meinung der Bürger zu legen, bleibt das Geheimnis der Brexiteers.

Auch die Behauptung, dass mit einem weiteren „People’s Vote“ die Büchse der Pandora geöffnet würde und das Land anschließend in einen Bürgerkrieg zwischen den Vertretern unvereinbarer Positionen abgleiten würde, trägt nicht. Denn der abgrundtiefe Zwiespalt in der Gesellschaft besteht ja schon jetzt, auch ohne ein zweites Votum. Insofern steuert Großbritannien so oder so auf seine eigene Dolchstoßlegende zu. Und dennoch: Die einzig relevante und für die gesamte Geschichte der Demokratie in Großbritannien hochbrisante Frage ist, ob man sich wissentlich oder unwissentlich der wirtschaftlichen und sozialen Selbstverstümmelungsmaschinerie des Brexit aussetzt. Wissentlich tut man dies nur, sollte ein zweites Referendum den Brexit besiegeln.

Die Pseudo-Revolution des Brexit wird in Politik und Medien von einer erzkonservativen englischen Elite gesteuert, die sich mit brillanter Dialektik der negativen Stimmungslage in der abgehängten Arbeiterschaft des Landes zur Durchsetzung ihrer eigenen Zukunftsvision ebenso geschickt wie zynisch bedient. Denn die Frustrationen der britischen Arbeiterschicht beruhen ja gerade auf dem Doppelphänomen der sozialen Exklusion und der enormen Unnachgiebigkeit, mit der die Elite des Landes bis heute eine gerechtere Verteilung der Pfründe des Landes verhindert.

Die Idee der EU war – und ist – für die britischen Erzkonservativen aus drei Gründen vollkommen inakzeptabel. Erstens kann man sich bis heute nicht mit einer fundamentalen Tatsache abfinden – dass das britische Imperium vorüber ist. Insbesondere die handelspolitischen Ideen der Brexiteers beruhen auf der irrigen Annahme, dass sich jenseits der EU die Länder der Welt um Handelsabkommen mit Großbritannien nur so reißen werden.

Zweitens ist die britische Elite nur bereit, einem Club anzugehören, wenn sie ihn auch dominieren kann. „Wir sind einfach nicht bereit, jemals irgendwo Teil eines Orchesters zu sein“, ist die wohl ehrlichste Erklärung, die man für den Anti-EU-Impetus, der hinter dem Brexit steht, in den Herrenclubs der britischen Hauptstadt zu Ohren bekommt.

Und drittens gilt die EU aus sozialpolitischen Gründen als Teufelszeug. Wenn man sich die Verbesserungen anschaut, die der britischen Arbeiterschaft in den vergangenen Jahrzehnten zuteil wurden, kommt man zu einer überraschenden Feststellung: So gut wie alle sozialpolitischen Verbesserungen wurden über das europäische Recht eingeführt – und gehen nicht etwa auf die Labour-Partei in ihrer langen Regierungsperiode von 1997 bis 2010 zurück, geschweige denn auf die Großzügigkeit der britischen Industrie. Dass die erzkonservativen Brexiteers vor diesem Hintergrund nun behaupten, dass glänzende wirtschaftliche Zeiten vor Großbritannien liegen, sobald es der angeblichen Unterdrückung durch Brüssel entkommen ist, das ist eine besondere Form des Zynismus.

Dieser Zynismus wird übrigens auch gegenüber der jungen Generation praktiziert. Die bevorstehende Abkehr von der EU wirkt auf viele von ihnen, besonders die dynamischeren und unternehmerisch Gesinnten, sehr demotivierend. Dabei ist es ja gerade die junge Generation, die durch ihre künftigen Einkommen die Sozialabgaben verdienen soll, aus denen die (oftmals Brexit-gesinnten) Rentner bezahlt werden sollen. Aber das ficht die Brexiteers nicht weiter an. Ihre Philosophie ist die der verbrannten Erde. So wie vor dem Referendum kennen sie einfach kein Limit und keine Scham beim Lügen.

Die von den Brexiteers propagierte Phobie vor dem Ausland ist auch aus einem anderem Grund eine pure Wahnvorstellung: Die beginnende, Brexit-bedingte Welle von Fabrikschließungen gerade in den ländlichen Gebieten des Vereinigten Königreichs unterstreicht, dass es oftmals europäische und japanische Unternehmen waren, die in vielen von der Deindustrialisierung bedrohten Zonen Großbritanniens investiert haben. Die dort lebenden Menschen sind also, entgegen den Behauptungen der Brexiteers, gerade nicht von Brüssel oder Europa im Stich gelassen worden. Das kann man von der Regierungsbürokratie in London und auch der englischen Business-Elite nicht behaupten. So hat die Regierung jahrzehntelang überwiegend in der Region London und an der Südküste investiert und diese modernisiert.

Was bei alledem die Rolle Theresa Mays anbelangt, so ist sie fraglos eine extrem sture Frau. Aber es ist der Höhepunkt männlicher Arroganz, wenn ihr die erzkonservativen Befürworter eines harten Brexit in ihrer eigenen Partei nun die berühmte Definition des Wahnsinns entgegenhalteN: Wahnsinn sei es, „immer wieder dasselbe zu tun und dennoch ein anderes Ergebnis zu erwarten“. In der Tat gibt es einige Leute in der britischen Politik, die verrückt sind. Aber dabei handelt es sich genau um diejenigen Konservativen, die behaupten, die Premierministerin sei verrückt.

Hinzukommt, dass die Männerriege von Jacob Rees-Mogg bis David Davis bei Theresa May immer gerne darauf abstellt, dass „sie“ wohl nicht imstande sei zu liefern. Dahinter steckt eine ungeschminkte Form des Sexismus. Denn das, was die erzkonservativen Männer wollen – heraus aus der EU und freier Zugang zum Waren- und Dienstleistungsverkehr ohne EU-Regularien zu unterliegen – kann niemand liefern. Das können sie aber nicht zugeben, denn es würde sie der politischen Impotenz überführen. Daher sind sie froh, sich wenigstens in der Form Satisfaktion zu verschaffen, dass sie jeden Tag auf Frau May wegen Nichterfüllung versprochener Dienstleistungen draufhauen. Ganz so, wie die Mexikaner dies symbolisch mit den Piñatas tun, in der Weihnachtszeit und bei feierlichen Anlässen wie Geburtstagen. In Mexiko dreschen allerdings beide Geschlechter nur auf eine farbig angemalte Pappmaché-Puppe ein.

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Stephan-Götz Richter

Stephan-Götz Richter ist Herausgeber und Chefredakteur von "The Globalist", einem Online-Magazin für globale Ökonomie, Politik und Kultur.

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