stephan-g-richter.de

Angela Merkels Abgesang: Ein politisches Psychogramm der 2017-Wahl – In 10 Stufen

8. Grün ist verwelkt

Erschienen in Die Welt (PDF). Um den Text des untenstehenden Artikels in ganzer Länge auszudrucken, klicken Sie hier.

Nein, in Wirklichkeit ist Angela Merkel noch nicht 25 Jahre Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Aber die Tatsache, dass sie diesen Posten erst seit nunmehr bald 12 Jahren innehat, nutzt ihr nicht viel. Denn das breite Publikum hat irgendwie den gefestigten Eindruck, als sei sie schon 25 Jahre am Ruder.

Und ganz so verfehlt ist der subjektive Eindruck ja nicht. Immerhin trat Angela Merkel ihr erstes Ministeramt (für Familie und Jugend) am 18. Januar 1991 an[1], also vor nunmehr über 26 Jahren. Das ist ein Ewigkeit, selbst in der deutschen Politik.

In jedem Fall wird Angela Merkel im Zeitpunkt der Bundestagswahl am 24. September unter den 200 größten Nationen der Erde die am längsten durchgehend regierende Politikerin der Demokratie-geschichte der Welt sein. Länger als Margaret Thatcher, und länger auch als Indira Gandhi, deren Amtszeit nicht durchgehend war.

Hillary Clintons Wahl zur US-Präsidentin scheiterte nicht an ihrer mangelnden Kompetenz, sondern daran, dass sie die Leute einfach nicht mehr auf dem Bildschirm sehen wollten. Dort hatte sie sich – ganz ähnlich wie Merkel – ab dem Jahr 1992 breitgemacht, als ihr Mann Bill seinen ersten erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf unternahm.

Seitdem war „die Clinton“ in ihren verschiedenen Rollen – als First Lady, als Senatorin, als Außenministerin – so gut wie immer in der Öffentlichkeit präsent. Im Jahr 2016 hatte sich aber jeder Neuigkeitswert vollends abgenutzt. Die US-Wähler fanden sich bereit, statt ihrer einem vollkommenen politischen Novizen das höchste Amt der USA anzuvertrauen.

Im Grund ist es ein Ding der faktischen Unmöglichkeit, einen so stressigen Posten wie den des deutschen Bundeskanzlers über mehr als ein Jahrzehnt auszuüben. Selbst Otto von Bismarck brachte es – in Zeiten, die niemals Wahlkämpfe erforderten – nur auf 19 Jahre (von 21. März 1871 bis 20.März 1890). Würde Merkel wiedergewählt, hätte sie am Ende der neuen Legislaturperiode (und dann 16 Jahren im Amt) 85% der gesamten Amtsperiode Bismarcks absolviert.

Merkel hat es sehr smart verstanden, sich lange Zeit als die Unersetzliche zu positionieren. Aber seit ihrer Reaktion in der Flüchtlingskrise glauben gerade für viele ihrer treuesten Wähler nicht mehr daran, dass sie auf Wasser gehen kann.

Der Merkel-Effekt hat sich aber nicht nur deshalb gründlich abgenutzt. In gewisser Weise ist unter Merkel die gesamte deutsche Politikerkaste „vermerkelt.“ Soll heißen: Man übt sich vornehm¬lich in Unscheinbarkeit. Das erscheint vielen als erstrebenswert, solange einem das den Tribut der (selbstpostulierten) Unersetzlichkeit einbringt.

Auf die immer wieder in den Raum hinein geraunte Bemerkung – wer sonst wenn nicht Merkel könnte es denn richten? – habe ich einen prägnanten Vorschlag: Warum versuchen wir es nicht mit irgendeinem anderen der 40-50 Spitzenpolitiker der beiden Regierungsparteien? Spaß beiseite, im Unterschied zu den USA sind die Strukturen des politischen Handelns in Deutschland so verfestigt und das System so stark, dass sich das Land am Ende (fast) von selbst regiert.

Im übrigen hat Frau Merkel ja eines niemals besonders hervorgekehrt – einen Führungs¬anspruch in der Sache. Solange sie das personalpolitische Zepter führte, war für sie die Welt vollkommen in Ordnung.

Die CDU ist – viel mehr als die SPD es je war – ein Kanzlerwahlverein. Der parteiinternen Evaluierung Merkels wird es in der Retrospektive nicht helfen, dass sie den Moment ihres selbstbestimmten Abgangs nun womöglich verpasst hat.

Im Grund macht sie sich aktuell aller Fehler schuldig, für die sie seinerzeit Helmut Kohl erst angeprangert und dann auch an den Pranger gestellt hat. In diesem Zusammenhang ist das kürzlich erschienene Interview von Kohls Sohn Walter bezüglich der Rolle Angela Merkels beim Tod seiner Mutter nicht nur symbolisch bedeutsam. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe er Angela Merkel damit zumindest verschlüsselt zum Abschuss freigegeben.

So wie Kohl hält sich Merkel faktisch für unersetzlich, auch wenn allen klar ist, dass sie keine neuen Ideen mehr hat und – vollkommen verständlich – nicht länger den Elan und die Energie hat, die das Amt gnadenlos erfordert.

Im Rückblick – nach der Abwahl Merkels — wird es ihre Partei nicht mehr verzückt zur Kenntnis nehmen, dass Merkel alle, die zum echten Nebenbuhler werden konnten, über den Jordan geschickt hat (wenn sie dies dümmlicherweise nicht selber bewerkstelligt haben).

Im Unterschied zu dem noch immer allzu merkelgläubigen CDU-Parteiapparat spürt das Wahlvolk sehr genau, dass Merkel den Moment zum Abgang verpasst hat. So steht sie nun wie ein Liter Milch nach Ablauf des Verfallsdatums im Kühlschrank.

Der bauchbasierten vox populi sind diese Zusammenhänge instinktiv bewusst. Sie sind es auch, die den Martin Schulz-Effekt am besten erklären. So wie es in den USA im Jahr 2016 eine ABC-Stimmung gab („anything but Clinton“) setzt sich nun in Deutschland eine ABM-Stimmung fest („anything but Merkel“).

Schulz weiß – und die Wähler wissen es – dass er kein Wunderheiler ist. Braucht er auch nicht zu sein. Es reicht, wenn er etwas lebhafter und empathischer herüberkommt als Merkel dies tun kann.

Nachdem Frauen in der deutschen Politik gute Fortschritte gemacht haben, gibt es obendrein auch ein bisschen Stimmung à la „Lasst ´mal wieder einen Mann im Kanzleramt ´ran.“

Was die Bürger obendrein aufspüren sind die vielen Identitätskonflikte, die in der Seele der Angela Merkel brodeln. Im Grunde weiß sie selbst nicht so recht, wer sie ist und wofür sie steht.

Dies erklärt auch, warum sie den Markenkern ihrer politischen Identität – Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste – im Herbst 2015 über den Haufen geworfen hat. Diese Merkelsche Identitätsverwirrung nutzt die SPD nun ebenso radikal wie geschickt aus.

Sie breitet sich auch immer mehr unter eingefleischten CDU-Wähler aus. Anfang 2017, nach dem Terroranschlag am Breitscheidplatz hatten viele von ihnen irgendwie das Gefühl, dass Vizekanzler Gabriel der eigentliche Konservative an der Regierungsspitze ist.

Jedenfalls bezog er deutlich Stellung in Sachen Rechte und Pflichten muslimischer Einwanderer und der damit verbundenen Kulturdimension. Merkel hingegen schwieg, ganz so, weil man das innerhalb der CDU von einem in der Wolle gefärbten Sozialdemokraten erwarten würde.

Das unterstreicht von neuem, dass Angela Merkel — wohl aufgrund ihrer mannigfach gebrochenen Ost-West-Biographie — am Ende nicht so recht weiß, wer sie ist oder wofür sie wirklich steht. Außer, dass es ihr irgendwie immer gelungen ist, sich im Windschattenkanal durchzudrängeln.

Der Abgang Gabriels vom Kanzlerkandidatenposten bedeutet nicht, dass die SPD bezüglich Gabriels klarer Sprache in Sachen kultureller Integration irgendwelche Abstriche machen würde. Mit Ausnahme des unverbesserlichen Nordlichts Ralf Stegner sorgen sich der SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann und natürlich Martin Schulz darum, in dieser Sache klare Kante zu zeigen.

Dabei geht es ihnen nicht nur – ähnlich wie Sarah Wagenknecht – darum, an die AfD verlorene Parteigänger wieder an sich zu binden. Das Kalkül der SPD ist verwegener: Die Partei setzt auch darauf, CDU-Wähler an sich zu ziehen, die Merkel keinen Wandel mehr zutrauen.

Das Schulz zugleich das herrliche Argument betonen kann „warum nicht gleich das Original“ (d.h. ihn und damit die SPD) wählen, entbehrt nicht der Pikanterie. Für Merkel hingegen zeigt es eine gewisse Tragik auf. Denn nach bisherigem Stand wird Merkel wahrscheinlich als erfolg¬reichste sozialdemokratische Kanzlerin der Bundesrepublik in die deutschen Geschichtsbücher eingehen.

Alles bisher Gesagte könnte sich als nicht fatal erweisen, wenn das eine Projekt, das Merkel noch im Ärmel hat, verfangen könnte. Aber die Option auf Schwarz-Grün überzeugt aus mehreren Gründen nicht mehr.

Zum ersten hat Merkel, die „eiserne Kanzlerin“ in Sachen Pro-Diesel-Politik, nicht nur in Brüssel alles andere als einen umweltfreundlichen Ruf. Zum zweiten tragen die Grünen ihre partei¬internen Flügelkämpfe aktuell über einen möglichst libertären Umgang mit dem Flüchtlingsthema aus. Der implizit damit verbundene Versuch der Partei, Deutschland als Weltenretter auf allen Meeren und in allen Regionen zu etablieren, trägt bei aller Humanität ab einem gewissen Zeitpunkt paranoide Züge. Diese sind – siehe nicht nur Afghanistan – für CDU-Wähler inzwischen erreicht.

Dass Merkel ihre Flüchtlingspolitik vor anderthalb Jahren so konzipierte wie sie es tat, mag mit einem – damals noch still gehegten – Traum zu tun gehabt haben. Denn das Einschlagen des von ihr gewählten Kurses kann ja auch damit zu tun gehabt haben, dass Merkel für sich persönlich eine Art Meisterprüfung in Sachen Etablierung einer schwarz-grünen Koalition ablegen wollte.

Je mehr sie ihrem grünen Traum nachstrebte, desto mehr entfernten sich nicht nur viele CDU-Wähler von diesem Projekt. Auch die Grünen scheinen nur noch eines verdeutlichen zu wollen – dass sie sich auf keinen Fall von Merkel umgarnen lassen wollen. Vor dem Hintergrund dieser Motivation sind die Sachentscheidungen vieler grüner Landesregierungen in der Flüchtlings¬frage – und die bedenklichen Konsequenzen, die sich daraus für die Bundespolitik via Bundesrat ergeben – bestens zu verstehen.

Was die bundesrepublikanischen Geschichtsbücher angelangt, ist all das bisher Gesagte eher Pippi-Kram. Denn wenn es so kommt, wie es sich jetzt auf einmal abzeichnet, dass auf Merkels 12 Jahre rot-rot-grün folgen wird, dann wird es innerhalb der CDU wie auch in der deutschen Wirtschaft zu einem (rückwirkenden) Erdbeben kommen.

Das, was aus der gesamten Periode von Merkels Regentschaft den meisten Bürgern am wenigsten bewusst ist, dass die Bundeskanzlerin genaugenommen keine einzige wirtschafts¬politische Strukturreformmaßnahme unternommen hat. Stattdessen hat sie das von ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder angelegte Familiensilber fleißig aufgezehrt.

Das Problem, das sich daraus ergibt, ist ein politökonomisches. Auch wenn schon Merkel als vermeintlich Konservative einiges an den Schröderschen Reformen zurückgenommen hat (u.a. Rente mit 67), dann wird rot-rot-grün noch einen ordentlichen zusätzlichen Schluck aus der Pulle nehmen müssen, damit sich die Hoffnungen der Wähler dieser Koalition erfüllen.

Rückblickend betrachtet werden CDU-Wähler und Wirtschaftskonservative Angela Merkel nicht nur als de facto-Wegbereiterin der rot-rot-grünen Koalition zu verachten lernen. Sie werden auch sehen, dass Merkels „Nichtwirtschaftspolitik“ denselben antreibenden Effekt auf ihren Nachfolger haben wird, wie dies in den USA zweimal fatal der Fall gewesen ist.

Das erste Mal passierte das bei George W. Bush (als Nachfolger Clintons) und aktuell geschieht es bei Donald Trump (als Nachfolger Obamas). Clinton und Obama firmierten offiziell als Präsidenten der Demokratischen Partei. In der Realität haben sie hingegen eine klassisch republikanische Wirtschafts- und Finanzpolitik betrieben. Kein Wunder, dass ihre jeweiligen Nachfolger da zum „Overdrive“ neig(t)en.

Merkel hat – umgekehrt gepolt – guten Teils eine stark sozialdemokratisch eingefärbte Politik betrieben (und das längst nicht nur aus Koalitionszwängen).

In Anbetracht dieser Analyse erscheint es durchaus möglich, dass Angela Merkel binnen kurzem von der unumstößlichen Heldin der Partei zu ihrem Schandfleck umgemünzt wird.

Was an alledem besonders verwundert, ist, warum Merkel noch einmal kandidiert hat. Aufmerksame Beobachter, die sie nur wenige Tage vor der Bekanntgabe ihrer erneuten Kandidatur im kleinen Kreis erlebt haben, waren sich absolut sicher, dass sie nicht noch einmal antreten würde.

Und wer sie seitdem bei öffentlichen Veranstaltungen erlebte, in denen es um andere als sie selbst ging, wäre beim visuellen Scannen des Saales niemals zu dem Schluss gekommen, dass ausgerechnet diese physisch ausgelaugte Person sich erneut als führende Politikerin des Landes präsentieren wollte.

Dass sie es dennoch tut, ist die dritte Wiederkehr der großen Hasardeurin: Das erste Mal war dies bei der Energiewende der Fall, das zweite Mal bei der Grenzöffnung. Man bedenke: Die Erfolgstendenz ist abnehmend.

Am Ende steht Angela Merkel bemerkenswert allein auf der Bühne. Die beiden Männer, die lange an ihren Seiten weilten (und so etwas wie ihre politischen „Tagesehemänner“ waren), sind mittlerweile beide von der Bühne getreten. Ein Nachfolger, der sie aufpeppen könnte, ist nirgendwo in Sicht. Außer wohl in Merkels Traum, in dem Baden-Württembergs Minister¬präsident Winfried Kretschmann wahrscheinlich als Vizekanzler herumschwebt.

Wer jemals erlebt hat, wie Merkel in Hintergrund¬gesprächen mit Journalisten, die sie zusammen mit Peer Steinbrück führte, angeregt tuchteln konnte und wer beobachten konnte, wie viel ihr an Barack Obama lag, der versteht die plötzliche Einsamkeit der Kanzlerin.

Während das Florettfechten mit dem einen sie von 2005 bis 2009 (in Steinbrücks Zeit als Finanzminister) auf Vordermann hielt, war das mit Obama ab dem Berliner Sommerbesuch 2008 der Fall. Aber auch das ist seit dem 20. Januar dieses Jahres Schnee von gestern.

Nun bleibt für Angela Merkel nur noch, auf ihren eigenen Abgang zu warten.

Erschienen in Die Welt (PDF). Um den Text des untenstehenden Artikels in ganzer Länge auszudrucken, klicken Sie hier.

Die mobile Version verlassen