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Mehr Realismus, bitte! Sonst endet die deutsche Energiewende im Scherbenhaufen

Erschienen in Focus (URL)

Nachdem Putins Truppen in die Ukraine einmarschiert sind, ist eine Debatte über Deutschlands künftige Energieversorgung entbrannt. Fest steht, dass sich unsere Energiewende nicht mehr auf russisches Gas als vorrangige Übergangsenergiequelle stützen wird. Es ist Zeit für Pragmatismus.

Der Koalitionsvertrag, den Olaf Scholz Ende November letzten Jahres abgeschlossen hat, ist seit dem Beginn der völkerrechtswidrigen Ukraine-Invasion Putins in wesentlichen Teilen Makulatur. Nach zwei Jahrzehnten einer vollkommen naiven Energieversorgungspolitik soll jetzt – auf Grundlage der Regierungserklärung von Olaf Scholz – endlich Pragmatismus und Realitätssinn einziehen.

Darauf deutet auch hin, dass Vizekanzler Habeck auf einer Mission nach Washington ist, bei der er alle erdenklichen Optionen zur maximalen Sicherung unserer Energieversorgung unter gleichzeitiger maximaler Reduktion des Russengases erörtert. Laut Habeck sind dabei alle Optionen offen.

Energiewende wird sich nicht mehr auf russisches Gas stützen

Der bisherige deutsche Energiewende-Kurs war bestenfalls von Wunschdenken und ehrlicherweise von einer verblendeten, geostrategisch desaströsen Russophilie angetrieben. Ein Kurs zudem, an dem sowohl Angela Merkel und ihre Union wie auch die SPD und die Grünen gleichermaßen wesentlichen Anteil hatten.

Fest steht nun, dass sich unsere Energiewende nicht mehr – wie bisher geplant – für die nächsten zwanzig Jahre auf russisches Gas als vorrangige Übergangsenergiequelle stützen wird. Was Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag bemerkenswerterweise unausgesprochen ließ, waren die praktischen Konsequenzen dieser fundamentalen Kursumkehr.

Realismus erfordert zunächst einmal, auch persönlich mit den Illusionen und Unwahrheiten der Vergangenheit aufzuräumen. Wir können nicht immer gegenüber der Unternehmenswelt von „accountability“ (also Verantwortungsdenken und -handeln) einfordern – und in der Politik dagegen stillschweigend zum Tagesgeschäft übergehen.

Die Grünen lagen mit ihrem Russland-Kurs goldrichtig

Diese Feststellung betrifft die höchsten Instanzen unseres Staates. So wartet die Nation weiterhin darauf, dass Angela Merkel ihren Gang nach Canossa antritt und Abbitte dafür leistet, dass sie so naiv war, sich bewusst zur tatkräftigen Unterstützerin von Putins Manöver zur energiepolitischen Umgehung (und Strangulierung) der Ukraine zu machen. Merkels Satz von dem „rein privatwirtschaftlichem Projekt“ steht noch im Raum. Er ist geeignet, ihrer Reputation dauerhaften Schaden zuzufügen.

Auch Frank-Walter Steinmeier, gerade als Bundespräsident wiedergewählt, hat allen Anlass, sich öffentlich zu korrigieren. 2021 hatte er in einem Interview einen merkwürdig fatalen Zusammenhang zwischen einer vermeintlichen deutschen Verpflichtung zur Komplettierung der Nord Stream 2-Pipeline und Hitlers Krieg gegen Russland hergestellt. Unsere historische Schuld ist das eine, die Verteidigung von Demokratie und nationaler Souveränität das andere.

Peinsam werden die neuen energiepolitischen Realitäten aber vor allem für die Grünen. Sie werden wegen Putins Invasion gleich eine ganze Reihe ihrer Erbhöfe und identitätsstiftenden Merkmale abgeräumt sehen. Das schmerzt umso mehr, als die Grünen – im Gegensatz zur Union und SPD – außen-, russland- und bündnispolitisch mit ihrem Kurs goldrichtig gelegen haben.

Steinkohle und Braunkohle müssen weiter genutzt werden

Dies belegt ihre Parteinahme für die Ukraine, ihre Ablehnung der Nord-Stream-2-Gaspipeline (die korrekterweise passender als „Nordstrick“-Pipeline bekannt sein sollte), ihr konsequenter Kurs gegen Putin und ihre Positionierung als entschiedener Verbündeter der Biden-Administration.

Aber mit Blick auf die praktischen klimapolitischen Konsequenzen der neuen strategischen Realitäten nach Putins Invasion der Ukraine haben die Grünen noch nicht einmal begonnen, diesbezüglich mit sich ins Reine zu kommen.

Denn wer sich nicht länger bereitwillig zur Geißel Putins machen will, der kommt nicht umhin, sowohl aus Gründen der Staatsräson, der Freiheitsliebe als auch des Realismus das nachfolgende Maßnahmenpaket vorübergehend in die Wege zu leiten: Erstens müssen wir alle inländisch verfügbaren Energiereserven nutzen. So ist etwa der Stopp der Produktion der Kohlekraftwerke auszusetzen. So sehr das klimapolitisch schmerzt, Steinkohle und Braunkohle müssen weiter genutzt werden.

Auch am Ölmarkt gilt es, kreativ vorzugehen

Ja, Kohle ist mit hohen CO2-Belastungen verbunden, deutlich höheren als bei Gaskraftwerken. LNG-Gas kann helfen, aktuelle russische Quellen zu ersetzen. Das ist ein wichtiges Thema bei Habecks Washington-Reise. Wir müssen die Finanzierung der Kriegsmaschinerie der Russen so sehr wie irgend möglich kürzen. Deshalb sollte auch die Laufzeit der drei noch betriebsfähigen deutschen Kernkraftwerke verlängert werden.

All das müssen wir wohl für einen Zeitraum von zehn Jahren tun. Dafür gibt es einen simplen Grund: Solange wird es nämlich dauern, bis grüner Wasserstoff und erneuerbare Energien in hinreichendem Maß zur Verfügung stehen. Diese Maßnahmen wären kurzfristig umsetzbar und würden Putin wirklich weh tun.

Auch am Ölmarkt gilt es, kreativ vorzugehen. Das gegen Venezuela gerichtete Ölembargo, immerhin das Land mit den größten Erdölreserven der Welt, sollte seitens der USA umgehend ausgesetzt werden. Und auch mit den Saudis und anderen Golfstaaten lassen sich energiepolitische Arrangements zur dynamischen Eindämmung Russlands machen.

„MBS“ ist und bleibt ein mörderischer Kronprinz. Aber im Unterschied zu Putin bedroht er nicht den Weltfrieden. Auch geht er das Thema Vorbereitung auf das postfossile Zeitalter ernsthaft an.

Rund 50 Prozent des Erdgases bezieht Deutschland aus Russland

Aktuell verbraucht Deutschland etwa 90 Milliarden Kubikmeter Erdgas, davon kommen etwa 50 Prozent aus Russland. Hätten wir heute noch die Atomkraftwerke des Jahres 2000, gäbe es deutlich weniger Bedarf an Erdgas aus Russland, denn die Atomenergie von 2000, etwa 180 Terrawatt, 31 Prozent der Gesamtstromproduktion Deutschlands, entspricht in ihrem Energiegehalt etwa 40 Prozent des Gasimports aus Russland heute.

Das ist keineswegs ein Argument für mehr Atomkraft, sondern verweist lediglich auf unsere nationale Neigung, in der Energiepolitik vor allem Eigentore zu schießen. In diesem Zusammenhang sollte niemand Angela Merkels politischen Fehlgriff übersehen. Nur wenigen Beobachtern ist bis heute klar geworden, dass ihr vermeintlich luzider „Fukushima“-Moment nur vorgegaukelt war. In Wirklichkeit war er wahlkampftaktisch und umfragegetrieben.

Beim Thema Atomstrom ist Deutschland unehrlich

Die damalige Bundeskanzlerin verkündete die Entscheidung zum Atomausstieg am 15. März 2011, also wenige Tage vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 27. März 2011. Sie tat dies in dem Bemühen, den Grünen dort politischen Wind aus den Segeln zu nehmen. Dieser parteipolitische Opportunismus war schon an sich schlimm genug. Die Strafe folgte aber auf dem Fuß, denn die Grünen wurden trotz Merkels Manöver stärkste Kraft und übernahmen mit Winfried Kretschmann das Ministerpräsidentenamt.

All das gilt jenseits der ebenfalls unbestreitbaren Tatsache, dass wir beim Thema Atomstrom aus Gründen der parteipolitischen Identitätspolitik weiterhin sehr unehrlich sind. Es ist ja nicht so, als ob wir nicht etwa weiter bereit seien, Atomstrom aus Frankreich oder von anderswo zu beziehen.

Ein weiteres kommt hinzu: Sogar angenommen, dass der deutsche Atomausstieg tatsächlich durch den Fukushima- Nuklearunfall ausgelöst wurde, ist es jetzt nicht erforderlich, diesen Schritt rückgängig zu machen? Immerhin droht die Nuklearmacht Russland uns zumindest indirekt mit einem nuklearen Winter.

Beim Bau von Stromtrassen hapert es

Auch in den anderen Feldern gilt es, neue Prioritäten zu setzen. So weht Offshore-Wind äußerst stetig und bedarf daher weniger Ausgleich in Flautenzeiten durch Gaskraftwerke. Doch bei dem Bau von Stromtrassen hapert es. Pelletheizungen sind nachhaltig, aber sie produzieren Feinstaub. Sollte man nicht auch hier abwägen, was wichtiger ist, geopolitische Abhängigkeit oder eine gewisse Feinstaubbelastung?

Geothermische Energie ist eine voll implementierbare und –für sich genommen – saubere Energiequelle. Sie ist heutzutage technologisch umsetzbar, individuelle Einheiten vor beinahe jedem einzigen Haus einzurichten. In der Tat geschieht dies im Staat New York in den Vereinigten Staaten, wo die verhältnismäßig kostspielige Einrichtung für Hauseigentümer mit einem Steuerkredit von 26.000 Dollar unterstützt wird.

Am Ende braucht es mehr Sinn für Realismus

Die Grünen und die ihnen nahestehenden NGOs haben in Sachen Energiewende bislang sehr absolutistisch argumentiert. Dabei haben sie das Spannungsverhältnis zwischen Energiepolitik und Geopolitik geflissentlich übersehen. Jede Wirkung – jede gewünschte Politik – hat eine Nebenwirkung. Ökonomen nennen das Opportunitätskosten.

Und die Opportunitätskosten einer fundamentalen energiepolitischen Herangehensweise sind nun einmal unsere hohe Abhängigkeit von Russland, die Finanzierung des russischen Machtapparats sowie der russischen Oligarchen. Es wird Zeit, das große Ganze zu sehen und zwischen den diversen Risiken abzuwägen und die Sehnsucht nach einer puristischen, monokausalen Sichtweise aufzugeben.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich unterstütze die Notwendigkeit einer Energiewende voll und ganz. Aber gerade damit diese große Transformation und dieses große Wagnis auch gelingen kann und nicht in einem Scherbenhaufen endet, braucht es dringend sehr viel mehr Sinn für Realismus.

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