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Angela Merkel und die harten Wahrheiten über die deutsche Energiepolitik

Erschienen in Wirtschaftswoche (URL)

Deutsche Energiepolitik basierte bisher auf einem nahezu grenzenlosen Vertrauen in Putin – russisches Gas sollte alle Lücken schließen, die die Energiewende riss. Angela Merkel und führende SPD-Politiker waren naiv

• Die deutsche Energiepolitik basierte auf einem nahezu grenzenlosen Vertrauen auf Putin, denn russisches Gas sollte alle Lücken schließen, die die Energiewende mit sich brachte.

• Angela Merkel und führende SPD-Politiker haben diese Naivität zu verantworten. Das Schweigen der Ex-Bundeskanzlerin ist ohrenbetäubend.

• Und eine persönliche Entschuldigung bzw. zumindest Erklärung fehlt noch immer. Das schadet sowohl der deutschen Demokratie als auch dem internationalen Ansehen unseres Landes.

Dass sich Deutschland unter diversen Regierungen, durchweg unter der Führung von Angela Merkel, für eine hochriskante energiepolitische Strategie entschied, ist Schande genug. Diese Politik basierte – neben allen „Ausstiegen“ – auf einer gigantischen Wette: Wladimir Putin würde immer so rational und berechenbar handeln, wie es die sowjetischen Führer seit den 1970er Jahren getan hatten.

Das ist schon von Anfang an eine naive Annahme gewesen. Putins imperialistische Ambitionen waren schon vor Jahren klar nachzulesen, als er seine Visionen von Großrussland unmissverständlich darlegte.

Diese Klarsicht hätte man umso mehr von einer Kanzlerin erwartet, für die ihr eigenes, unerwartetes Entkommen aus dem Joch der Unterdrückung in der DDR angeblich das konstituierende Leitmotiv ihres politischen Weges darstellt. Sie und ihre diversen politischen Weggefährten wollten aber keine klare Sicht. Dies hätte nämlich unweigerlich zu der Einsicht geführt, dass die vielgepriesene deutsche Energie¬wende auf sehr tönernen Füßen stand.

Letztlich ging es bei dem ganzen Brimborium um die Energiewende ja auch gar nicht um Energiepolitik. Das zentrale Steuerungsinstrument waren rein innenpolitische Macht-koordinaten.

Unter diesem Vorzeichen war der kuriose deutsche Weg zur Energiewende, der von keinem anderen europäischen Land so mitbeschritten wird, seit 1998 das Resultat einer faktischen Dreiparteien-Koalition war. In der Ära vor Merkel war er zunächst – in Stufe eins, zwischen 1998 und 2005 – das Ergebnis der strategischen Anpassung der SPD an die Grünen. Und dann, in Stufe zwei zwischen 2005 und 2021, war sie unter Merkel im Rahmen ihrer asymmetrischen Demobilisierungs¬strategie das Ergebnis der Anpassung der Union an die Grünen.

Dabei passte die North Stream 2-Pipeline, die ehrlicher unter dem Namen „Nordstrick-Pipeline“ hätte firmieren sollen, aus einem Grund ganz hervorragend in Merkels machtpolitisches Zukunftskalkül: Sie diente dazu, die SPD Merkel gefügig zu machen.

Merkels ohrenbetäubendes Schweigen

Was aber vor dem Hintergrund des Überfall Russlands auf die Ukraine aktuell wirklich unverzeihlich ist, ist das anhaltende Schweigen der langjährigen ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin.

Bis heute hat Angela Merkel ihr übles Wort, die North Stream-Gaspipeline als „rein privatwirtschaftliches Projekt“ zu bezeichnen, nicht zurückgenommen. Das sollte das Mindeste an Anstand sein, was sie aufbringen sollte.

Das gilt umso mehr für eine Frau, der in den Jahren, als sich die USA in den Klauen des despotischen Donald Trump befanden, weltweit die Rolle des Gewissens der westlichen Welt zugewiesen wurde und die diese Rolle, so hat man den Eindruck, auch bereitwillig annahm.

Bis heute steht eine lange überfällige, persönliche Entschuldigung bzw. zumindest Erklärung noch immer aus. Das schadet sowohl der deutschen Demokratie als auch dem internationalen Ansehen unseres Landes.

Das sie das nicht getan hat, lässt sich auch nur schlecht mit dem Gebot rechtfertigen, nicht in das Tagesgeschäft der Nachfolgeregierung einzugreifen. Hier geht es aber nicht um das politische Tagesgeschäft, sondern um das Eingeständnis historischer Verantwortung.

Bis heute hat Angela Merkel nicht zugegeben, dass sie als Bundeskanzlerin de facto die wichtigste politische Helferin des Gazprom-Lobbyisten Gerhard Schröder war. Vom Kanzleramt aus hat sie die Ausführung der politischen Flankierungsmaßnahmen der NS2-Gaspipeline übernommen.

Und in all den Jahren hat Deutschland über seine Energiekäufe die russische Kriegsmaschine munter mitfinanziert. Das macht die heutige Diskussion über die Frage, ob ein jetzt verhängter Importstopp überhaupt Effekte auf Putins Militär haben würde, besonders beschämend.

So schmerzlich es auch ist, es lässt sich nicht leugnen, dass die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin aktiv mit Herrn Putin zusammengearbeitet hat, um Deutschlands Gasversorgung von der Ukraine abzukoppeln. Ihre Bemühungen in der Spätphase ihrer Kanzlerschaft, die Ukraine mit einigen Finanzströmen aus dem Gassektor zu versorgen, waren zu wenig und kamen zu spät, um es sehr milde auszudrücken.

Aber es geht hier längst nicht nur um Kanzler*innen-Schelte: Eigentlich steht so gut für alle politischen Parteien der Gang nach Canossa an. Stattdessen beobachten wir eine kaum erträgliche Neigung, Dinge unter den Teppich zu kehren.

Der soziale Frieden in Deutschland ist vorrangig?

Insbesondere die deutsche Krämerseele, die momentan allenthalben durchscheint, ist schwer erträglich.

Die angesichts der Notlage des ukrainischen Volkes bisher entlarvendste Äußerung seitens der deutschen Regierung war die – ausgerechnet von Vizekanzler Robert Habeck – wiederholt aufgestellte Behauptung, ein Abbruch der Energielieferungen aus Russland würde den „sozialen Frieden“ in Deutschland stören.

Das ist besonders schwer von einem Land zu akzeptieren, das ansonsten bereit ist, für so gut wie jedes Problem seiner Wähler eine Menge Geld auszugeben. Man denke nur an die hohen Ausgaben für die Finanzierung von Kurzarbeit während der Pandemie. Eine derartige, krämerseelenhafte Fokussierung auf das eigene Land passt zudem nicht zu einer Regierung, die Donald Trump seinerzeit zu Recht für seine unverhohlene „America First“-Politik kritisiert hat.

An Perfidität ist das Schweigekartell, dass die Regierungsparteien anscheinend untereinander vereinbart haben, kaum noch zu überbieten. „Mach mir den Pelz nicht nass“ scheint die neue Form des Verantwortungsdenkens in der deutschen Politik geworden zu sein.

Politische Karrieren laufen endlos weiter. Schwerwiegende Fehler gemacht zu haben zählt nicht länger als Grund zur beruflichen Disqualifikation.

Was ist der Weg nach vorn?

Ganz klar: Ein umgehendes Ende aller Energiekäufe aus Russland.

Aber schon auf dem ebenfalls auf der Tagesordnung stehenden Weg, wie Deutschland seine Energiewende endlich auf geopolitisch und energiepolitisch solide Füße stellen kann, werfen Angela Merkels gravierende politische Versäumnisse ihren dunklen Schatten auf unsere energie- und klimapolitische Agenda.

Die meisten Aufgaben, die jetzt auf der Umwelt- und Energiesicherheitsagenda stehen, hätten von jeder umsichtig handelnden deutschen Regierung in den 15 Jahren von Merkels Amtszeit angegangen (und in der Tat weitgehend gelöst) werden können – und müssen. Immerhin war Frau Merkel diese gewiss komplexe Thematik ja keineswegs fremd. Bei ihrem politischem Aufstieg war sie von 1994 bis 1998 mehrere Jahre lang Umweltministerin und ließ sich auch anschließend dafür feiern.

Es stimmt, Merkels Regierungen haben das deutsche Energierecht um Tausende von Seiten erweitert und alles in Sichtweite bürokratisiert, so dass sinnvoller Fortschritt oftmals im Keim erstickt wurde. Trotz allem Hang zur Überregulierung fiel niemandem auf, dass Gazprom(!) unter Peter Altmaier, dem langjährigen Paladin Merkels, eine Schlüsselrolle bei der Verwaltung und Wartung der deutschen Gasspeicher zugewiesen wurde.

Merkel hatte sich zu Beginn ihrer Kanzlerschaft im Jahr 2005 als nüchterne Managerin präsentiert, noch dazu als nüchterne Wissenschaftlerin und Systemdenkerin. Angesichts dieses Anspruchs ist es merkwürdig, dass sie die schwierigen Themen nicht wirklich ernsthaft angegangen ist und dem deutschen Volk stattdessen die – für beide Seiten bequeme – Idee einer sorglosen Regentschaft verkauft hat.

Wie der Rest der Welt – aber erst recht wir Deutschen – mit wachsendem Unglauben feststellen wird, war ein Großteil der Zeit, in der Merkel das deutsche Kanzleramt innehatte, vergeudet. Das meiste, was Merkel tat, bestand aus Aufschieben und Verzögern und ihrer Politik der asymmetrischen Demobilisierung. Das einzige Ziel des bedenkenlosen Aneinander¬¬reihens der Kernforderungen der eigenen politischen Gegner war der persönliche Machterhalt – koste es die Nation, was es wolle.

Dass die Sozialdemokraten unter Olaf Scholz nun gemeinsam mit den Grünen, also die beiden Parteien, denen Merkel die politischen Themen klaute, nun nach der Ära der Frau, die von manchen als erfolgreichste sozialdemokratische Kanzlerin in der deutschen Geschichte angesehen wird, hinter ihr aufräumen müssen, ist eine politische Realität, die voll von Ironie ist.

Aber es sind ja nicht nur die politischen Parteien. Jetzt müssen wir alle als Nation die Suppe auslöffeln, die uns Angela Merkel mit ihrem machtpolitischen Opportunismus eingebrockt hat. Dass Robert Habeck als Klimaminister dabei eine zentrale Rolle zukommt, ist nicht nur ein großer Akt der Ironie. Es könnte auch seine Kanzlerprobe sein.

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