stephan-g-richter.de

Wer es gut meint mit Russland, muss dessen Modernisierung fordern

Erschienen in Die Welt (URL) | (PDF)

Es ist kein Zeichen westlicher Arroganz, die Rückständigkeit des Landes beim Namen zu nennen. Wem das Schicksal der russischen Bevölkerung wirklich am Herzen liegt, muss auf eine Liberalisierung des Staates drängen.

Die „Modernisierungspartnerschaft“, die Deutschland seit 2008 mit Russland betreibt, hatte gute Intentionen. Sie sollte dort nicht nur zu mehr Rechtsstaatlichkeit und einem effektiveren Kampf gegen die Korruption führen. Vor allem sollte sie Russland mittelbar für seine Schicksalsschlacht mit dem postfossilen Zeitalter wappnen.

Dazu ist vonnöten, was die Putinisten auf Teufel komm raus zu verhindern suchen – die Ausformung einer stärkeren Zivil- und Bürgergesellschaft als Grundlage für die Orientierung hin zu einer international wettbewerbsfähigen Dienstleistungsgesellschaft.

Für die Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft kommt es ja auf sehr viel mehr an, als Öl- und Gasvorkommen zu haben. Insofern teilt Russland eine ganz entscheidende Herausforderung mit Saudi-Arabien. Beide Länder müssen sich im Grunde neu erfinden.

Angesichts dieser für die Russen sehr herausfordernden Umstände kann an der grundsätzlichen Berechtigung eines reformerischen Engagements der deutschen Politik und Wirtschaft in Russland also kein Zweifel bestehen. Dies liegt grundsätzlich im Interesse beider Nationen, aber vorrangig der Russen selbst.

Woran aber erhebliche Zweifel angebracht sind, ist die russische Aufrichtigkeit. Jenseits von gelegentlichen Lippenbekenntnissen, einen Modernisierungs- und Transformationsprozess, wie er in der Partnerschaft von 2008 angelegt war, ernsthaft verfolgen zu wollen, geschieht wenig.

Was indes mit schöner Regelmäßigkeit passiert, sind hanebüchene Verbrechen, die von russischen Staatsorganen dirigiert werden und sich gegen das Leben bzw. die Gesundheit oppositioneller Politiker und Journalisten richten. Begleitet werden diese menschenverachtenden Aktivitäten mit Presseverlautbarungen, die – wie zuletzt beim Anschlag auf Alexander Nawalny – von Zynismus nur so triefen und zudem äußerst fadenscheinig sind.

Am erstaunlichsten ist aber, mit welcher Passivität weite Teile der russischen Bevölkerung all diese Menschenverachtung und diesen Zynismus hinnehmen. Hätte irgendjemand je gedacht, dass sich Weißrussland vergleichsweise als Hort des demokratischen Geistes und friedlichen zivilen Widerstands entpuppen würde?

Die Schmach, die sich daraus für die Russen ergibt, ist abgrundtief. Zwar gibt es dort eine kleine Schicht von freiheitlich gesinnten Menschen, aber die große Masse bleibt weiter im zaristisch-kommunistisch-putinistisch aufoktroyierten Trott.

Um es klar zu sagen: Bei aller grotesken Neigung des amtlichen Russland zu kriminellen Umtrieben scheint Mohammed bin Salman, der bekanntermaßen blutlüsterne und nicht minder zynisch veranlagte Kronprinz von Saudi-Arabien, sehr viel ernsthafter an einer Modernisierung der Wirtschaft seines Landes interessiert zu sein, als dies bei Putin und Co wahrzunehmen ist.

Unterdessen nimmt die Welt die im russischen IT-Sektor durchaus bestehende Kreativität, die noch vor einem Jahrzehnt oft hochgelobt wurde, heutzutage überwiegend via Troll-Farmen und Hackern wahr. Das einzige „Talent“ des amtlichen Russland und seiner technologischen wie propagandistischen Hilfstruppen besteht offensichtlich in zerstörerischem Handeln und dem Untergraben der sozialen und politischen Ordnung anderer Länder.

Wer aus deutscher Sicht die aktuelle Lage in Russland betrachtet, muss sich – selbst wenn man Platzeck oder Schröder heißt – eigentlich eingestehen, dass die russische Gesellschaft unter Putin alles andere als liberaler geworden ist. Statt sich gen Europa zu öffnen, hat sich Russland dem chinesischen Weg der strikten politischen und sozialen Kontrolle durch den IT-basierten Überwachungsstaat verschrieben.

Damit stellt sich auch immer offensichtlicher die Frage, ob Russland kulturell überhaupt noch Teil Europas ist. „Zivilisiert“ kann man ja weder das Regime noch die Oligarchen samt ihrer mafiösen Strukturen nennen.

Wer in Deutschland dennoch die Hoffnung hat, dass Russland eine Wende bei der inneren Entwicklung des Landes schaffen könnte, der darf sich einer elementaren Einsicht nicht entziehen. Spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die oppositionelle, demokratisch und bürgerrechtlich orientierte Ader der Bevölkerung des Landes immer weiter verkümmert.

Ein entscheidender Faktor hierfür ist, dass ein großer Teil des kritisch gesinnten Humankapitals nicht mehr im Land weilt. Gerade die urbanen jüdischen Facheliten haben bereits seit Mitte der 70er-Jahre alle Möglichkeiten der Emigration insbesondere in Richtung der Vereinigten Staaten und Israel wahrgenommen. Das hat vor allem den USA Nutzen eingetragen, aber zu einer weiteren strukturellen Verkümmerung im heutigen Russland geführt.

In Anbetracht dieser Tatsachen machen wir Deutsche uns mit unseren Heerscharen von Russlandverstehern zunehmend lächerlich. Ständig vor dem Aufkommen von „Eskalationsspiralen“ zu warnen und unablässig für das Knüpfen oder die Wiederaufnahme von irgendwelchen Gesprächsfäden zu werben, als ob die substanziell irgendetwas bewirkt hätten, degeneriert immer mehr zu einer Form von rituellem Wahnsinn.

Es ist höchste Zeit für eine klare Ansprache. Denn wir Deutsche haben aus eigener Erfahrung gewiss das Zeug, zu einer ernsthaft unternommenen Modernisierung Russlands beizutragen.

Gerade wer sich als Freund Russlands versteht, sollte im Interesse des russischen Volkes – und damit im Gegensatz zu den selbstsüchtigen, neofeudal-korrupten Eliten des Landes – nichts beschönigen und die wirtschaftsreformerischen Probleme beim Namen benennen.

Wer freilich mit Blick auf eine konstruktive deutsche Rolle so argumentiert, dem schlägt aus dem Lager der Russophilen unter uns sofort eine Welle der Empörung entgegen. „Wer sind wir denn, dass wir uns den Russen gegenüber so aufspielen?“, heißt es schnell. Und: „Die Russen, die uns im Zweiten Weltkrieg so vernichtend geschlagen haben, sind zu Recht ein stolzes Volk, das nicht darauf wartet, von den Deutschen in wirtschaftlichen Dingen belehrt zu werden.“

Womit sich eine einfache Frage aufdrängt: Wer – wenn nicht wir – soll diesen realitätsorientierten Vorstoß sonst übernehmen? Zumal die Russen ganz offensichtlich nicht in der Lage sind, von sich selbst aus das Notwendige zu unternehmen.

Von dem Tatenmut und der Lernbereitschaft, die etwa Peter der Große mit seiner Lernreise nach Europa 1697–98 an den Tag legte, um das Land zu modernisieren, ist unter den heute Regierenden nicht einmal ein Quäntchen zu verspüren.

Das viele Öl und das Erdgas führen auf russischer Seite weiterhin zu einer fatalen, immer kurzsichtigeren Form des Glaubens an die eigene Überlegenheit.

Aber ist es wirklich überheblich, wenn wir den Russen Ratschläge geben? Was gerne als Totschlägerargument konstruiert wird, geht bei genauerer Betrachtung nach hinten los. Denn die dahintersteckende These, Russland müsse – bzw. wohl eher solle – niemandem zuhören, bewirkt nur dessen fortgesetzte Selbstisolation bzw. Absinken in den politökonomischen Nihilismus.

Natürlich geht es nicht darum, die Russen zu belehren. Was wir Deutsche aber in Russland vollkommen glaubwürdig vortragen können ist erstens, dass wir uns auf den systematischen Aufbau einer breit gefächerten Volkswirtschaft sehr gut verstehen. Dies gilt auch für Extremsituationen wie der vollkommenen Zerstörung durch Krieg oder Hyperinflation.

Und zweitens können wir anschaulich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Tatsache belegen, dass Offenheit im Austausch mit dem Ausland und die Bereitschaft, gute Ideen aus der Ferne anzunehmen, wesentliche Grundlagen unseres eigenen Wohlstands sind.

Diese Gedanken vorzutragen und zugleich auf die vielen Irrwege und Inkonsequenzen beim Betreiben der vermeintlichen Modernisierung Russlands zu verweisen, ist kein Akt der Arroganz, sondern ein Akt der wohlverstandenen Freundschaft.

Die Notwendigkeit, diesen Versuch zu unternehmen, auch wenn er inzwischen eher Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlenflügel zu gleichen scheint, ist noch aus einem anderen Grund wichtig. Gerade weil wir Deutsche uns innerhalb der Nato und des Westens bei brisanteren militärischen Fragen mit schöner Regelmäßigkeit wegducken, ist es unbedingt anstrebenswert, auf deutscher Seite eine Politik zu betreiben, die Russland wirtschaftlich und gesellschaftlich modernisiert und geeignet ist, es außenpolitisch auf einen versöhnlicheren Kurs zu führen. Warum sollten nicht auch die Russen in der Lage sein, sich vom Untertanengeist zu befreien? Warum sollten sie dazu verdammt sein, auf das Leidenspotenzial der eigenen Bevölkerung zu setzen?

Wenn wir Deutschen im Umgang mit Moskau weiterhin auf einen reflexiv-verständnisvollen Kurs setzen und nicht bereit sind, die Dinge beim Namen zu nennen, sind wir mitverantwortlich für die fortgesetzte Stagnation, wenn nicht gar für den kontinuierlichen Niedergang Russlands. Den Mut zum Widerspruch aufzubringen, ist eigentlich der einzig relevante Freundschaftsakt, der zählt.

Die Alternative ist inakzeptabel. Gerade wir Deutschen sollten nicht schweigend zusehen, wie die russische Führung in puncto Zukunftsfähigkeit des Landes in erster Linie auf den historisch bewährten Untertanengeist und vor allem auf das Leidenspotenzial der russischen Bevölkerung setzt.

Die mobile Version verlassen