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Theresa May und der Brexit: Zehnfach verrechnet

Tom Evans/Number 10

7. Selbstkastration als Strategie

Tom Evans/Number 10

Erschienen in Spiegel Online. Um den Text des untenstehenden Artikels in ganzer Länge auszudrucken, klicken Sie hier.

Die engl.spr. Fassung aus The Guardian finden Sie hier.

Bei aller Aufregung im Tory-Lager über die einheitliche Front der EU-27 in Sachen Brexit: Der echte Schock für die Briten ist ein ganz anderer. Insbesondere die Menschen in Nordirland, Wales und Schottland können nur davon träumen, dass Theresa May ihnen gegenüber auf ein ähnliches Maß an Zusammenhalt innerhalb des angeblich „Vereinigten“ Königreichs bedacht wäre, wie die EU 27-Länder dies beim Thema Brexit untereinander erreicht haben.

Aber May geht es nur um ihre persönliche Agenda und – trotz aller Rhetorik über die Interessen der Arbeiterschaft – um die Durchsetzung einer rabiat konservativen Agenda. May will ihrer Partei mehr Macht verschaffen, ganz gleich, wie die Brexit-Verhandlungen verlaufen und welche Kollateralschäden dies im eigenen Land verursacht. Solange sie die Labour-Partei klein hält, ist für May die Welt vollkommen in Ordnung.

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In der Vergangenheit haben die Tories gegenüber Europa immer eine „divide et impera“-Strategie verfolgt. Doch dieser übliche Ansatz konnte diesmal nicht aufgehen. Er scheiterte genaugenommen schon in dem Augenblick, als sich die Brexit-Kampagne so zentral auf polnische Arbeitnehmer in Großbritannien einschoss.

Denn die polnische Regierung unter Kaczynskis Führerschaft war die einzige, die vom Temperament und Gewicht bedeutsam genug war, um zugunsten der Briten beim Brexit Sand ins EU-Getriebe zu streuen.

Der frontale Angriff auf die Polen in Großbritannien mag dem Brexit-Lager zwar zum Sieg beim Referendum verholfen haben, aber es war ein echter Pyrrhus-Sieg. Denn die Polen stehen den Briten nun nicht als der dringend benötigte Spielverderber zur Verfügung.

Dies ist historisch umso bedeutsamer, als Polen ein traditioneller britischer Verbündeter ist und Kaczynski sicherlich nicht gerne mit Deutschland und der EU gemeinsame Sache macht.

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Die dritte Fehlkalkulation ist, dass die britischen Konservativen auch noch stolz darauf sind, sich aus reiner Arroganz heraus weit von den EU-Realitäten entfernt zu haben. Ihr mangelndes Verständnis und ihre Geringschätzung für die innereuropäischen Mechanismen rächt sich nun.

Wer an Europa im Wesentlichen nur feine französische Weine (und diese schon üppig zum Mittagessen) schätzt, dem fehlt in Sachen Brexit-Verhandlungen die Bodenhaftung.

Kein Wunder also, dass May und ihr Team vollkommen davon überrascht waren, dass die EU 27 – in der Regel als notorisch uneiniger Haufen beschrieben – in Sachen Brexit-Strategie so eng zusammenstehen.

Genaugenommen agieren May und ihr Team noch arroganter und realitätsfremder als Donald Trump und seine Administration. Denn in Washington gibt es ja einige Minister, die ihrem Präsidenten gegenüber nicht mit dem Hacken knallen. Und selbst Trump hat ja seit seinem Amtsantritt (in Sachen Russland, Nato usf.) schon einiges gelernt.

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Die vierte Fehlkalkulation: Die Strategie von Theresa May und ihren strategischen Beratern in Medien und Politik, eine Allianz der beiden mächtigen Damen Europas (zwischen sich und Angela Merkel), schmieden zu wollen, war schon immer ein Luftschloss.

Für eine normalerweise sehr bedachtsam vorgehende Politikerin wie Merkel stellt es einen beträchtlichen Schritt dar, sich mit ihrer Bundestagsrede Ende April faktisch in die britischen Wahlen einzumischen. Dabei merzte sie das von May kunstvoll geschaffene Narrativ eines besonderen Deals aus, bei dem es Großbritannien gelingen sollte, alles, was es will, zu behalten, und alles andere loszuwerden, was ihm nicht passt.

Das bedeutet aber auch, dass Mays Echauffiertheit über Jean-Claude Juncker gespielt ist. Denn Angela Merkel hat ja auf ihre Weise im Grunde nichts anderes gesagt, als dass May und die Tories in einer anderen Galaxie leben.

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Die fünfte Fehlkalkulation betrifft die Wirtschaftsdynamik. Mays Wahlkampfrhetorik beruht zentral auf dem Argument, dass die Wirtschaft in Großbritannien viel besser dasteht als im Rest der EU. Für May und die Tories ist die EU ja bekanntermaßen der Totengräber der britischen Dynamik.

Da passt es nicht so recht ins Bild, dass allmählich echte Sturmwolken am Horizont der britischen Ökonomie aufziehen, während es ausgerechnet in der viel vermaledeiten EU-Wirtschaft Anzeichen einer echten Erholung gibt – und zwar gerade auch auf dem Arbeitsmarkt.

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Wie die Tories nicht verstehen konnten, dass der Brexit die EU zusammenschweißen würde, wird für immer ihre gröbste Fehlkalkulation bleiben.

Denn eine Nation, die das Clubwesen erfunden hat, sollte doch wissen, dass Aussteiger, die weiter irgendwie vom Club profitieren wollen, Bittsteller sind. Die Tories setzen da sogar noch einen drauf: Als künftiges Nichtmitglied wollen sie am liebsten auch noch im EU-Exekutivausschuss sitzen.

Theresa Mays Torheit, aus Stolz heraus einen harten Brexit zu verfolgen, ist für jeden, der an der EU festhalten möchte, ein Geschenk der Götter. Denn wenn der EU bisher eines gefehlt hat, dann war es eine effektive Abschreckungsstrategie im Innern.

Anhand des Brexit wird nun aber vorexerziert, was ein Land in Kauf nimmt, wenn es fortan auf sich allein gestellt sein will.

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Verwegen ist auch die siebte britische Fehlkalkulation. Wer von sich aus die vermeintliche Drohkulisse eines „harten“ Brexit inszeniert, der handelt selbstzerstörerisch. Damit zu drohen, ist etwa so, als ob man in einem Potenzstreit die eigene Kastration als Trumpfkarte in die Waagschale werfen würde.

Im Grunde schießen May und Konsorten mit ihrem Abheben auf diese „harte“ Strategie womöglich das Eigentor des Jahrzehnts. Denn ein harter Brexit schadet ja vor allem dem vielleicht bald nicht mehr so Vereinigten Königreich.

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Dies führt zur achten Fehlkalkulation: Aus Sicht derer in Kontinentaleuropa, die immer noch darauf hoffen, dass in Großbritannien irgendwann die Vernunft siegen wird, steigt mit der Verfolgung des harten Brexit die Chance, dass das Land irgendwann doch noch einknicken wird.

Dieses Kalkül gilt in besonderem Maße für Deutschland. Aber nicht nur in Berlin ist man letzten Endes davon überzeugt, dass nur eine EU mit Großbritannien als Mitglied eine wirklich starke EU ist.

Die deutsche Strategie ist insbesondere davon getrieben, alles zu tun, um die Dimension des marktorientierten Denkens in der europäischen Wirtschaft zu stärken (die in gewichtigen anderen EU-Volkswirtschaften als unzulänglich erachtet wird).

Im Kern bedeutet das, dass es in Deutschland keinen Appetit auf einen Kompromiss mit den Tories in ihrer harten Brexit-Strategie gibt, obwohl diese – wie ein widerborstiges Kind in zunehmender Verzweiflung – genau darauf setzen.

Aus deutscher Sicht gibt es Grund für Zugeständnisse aber nur, falls sich die britische Agenda von Grund auf verändert und man in der EU bleiben will.

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Die souveränitätsbesessene Theresa May entpuppt sich zunehmend als der Donald Trump Europas: Was auch immer sie an strategischen Fehlern begeht – und von denen gibt es viele -, Schuld daran ist niemals sie selbst oder ihre Partei, sondern immer die anderen, vornehmlich andere Nationen.

Jüngstes Beispiel: Angesichts der für sie unerwartet einstimmigen Position der EU-27 in Sachen Brexit behauptet May nun, dass die Position der anderen EU-Länder eine Zunahme von „Ungewissheit und Instabilität“ bedeute. Das könne zu höheren Steuern, weniger Arbeitsplätzen, mehr Verschwendung und mehr Schulden führen – kurzum, die ganze Litanei angsttreibender, konservativer Wahlpropaganda.

Mitunter klingt May dann schon wie Marine Le Pen. Das drückt sich nicht nur in der beiden gemeinsamen Überzeugung aus, die Grenzen zu schließen, sondern auch darin, dass ein mehr an „Souveränität“ Reichtum schaffe, gerade auch für einfache Arbeiter.

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Die abschließende Fehlkalkulation ist der Glaube, sich gegen alles stellen zu können, was wir vom britischen Pragmatismus und Realismus wissen und an ihm schätzen. Viele britische Brexit-„Strategen“ glauben immer noch daran, dass es ihrem Land gelingen wird, ein Kaninchen aus dem Hut zu ziehen.

So haben sich diese Glaubenstäter, die ein wenig an den deutschen Wilhelminismus des späten 19. Jahrhunderts erinnern, in dem kunstvolles Argument verstiegen, dass nach den wichtigen Wahlen Europas im Jahr 2017 (vor allem in Frankreich und Deutschland) die Verhandlungskarten womöglich qua Regierungswechsel in diesen Ländern neu gemischt würden.

Auf diese Weise würde der Widerstand gegen das Denken der Tories dann irgendwie in sich zusammenbrechen – und Großbritannien würde in den Brexit-Verhandlungen doch noch triumphieren.

Es sei denn, Marine LePen wird am kommenden Sonntag französische Präsidentin, war das immer eine wahnhafte Strategie.

Die wirkliche Überraschung besteht darin, dass der Illusionismus, der aus dem Tory-Lager hervorstrahlt, eine fundamentale Abkehr vom britischen Pragmatismus und Realitätssinn ist. Diese sind seit Jahrhunderten das Markenzeichen der Außenpolitik Großbritanniens sind.

Bisher war das Vereinigte Königreich nicht dafür bekannt, sein Schicksal aus freien Stücken heraus an einen seidenen Faden hängen zu wollen. Theresa May versucht, just dieses zu ändern.

Erschienen in Spiegel Online. Um den Text des untenstehenden Artikels in ganzer Länge auszudrucken, klicken Sie hier.

Die engl.spr. Fassung aus The Guardian finden Sie hier.

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