stephan-g-richter.de

Warum Donald Trump fast wiedergewählt worden wäre

Erschienen in Wirtschaftswoche (PDF) | (URL)

Es lohnt sich, im aktuellen Zusammenhang diese Analyse aus dem Mai dieses Jahres zu lesen.

In den USA stürzt die Konjunktur ab. Das Land zählt mehr als 30 Millionen Arbeitslose. Der Präsident irritiert mit Schamlosigkeit. Aber viele Amerikaner schreiben ihn trotzdem nicht ab. Im Gegenteil. Sie fühlen sich Trump in seiner selbstentblößenden Fehlerhaftigkeit geradezu symbiotisch verbunden.

So unglaublich es sich in europäischen Ohren anhören mag: Onlinewettbörsen zufolge ist die Chance für eine Wiederwahl Donald Trumps aktuell größer als der Einzug von Joe Biden ins Weiße Haus, seines mutmaßlichen Konkurrenten von den Demokraten. Trumps Coronafiasko? All seine vorherigen Missetaten? Ficht viele seiner Landsleute nicht an. Die Amerikaner haben offensichtlich eine ganz andere Mentalität als wir. In den USA geht es im politischen Spiel weit weniger um Kompetenz und Verlässlichkeit als hier in Europa. Wir mögen hierzulande noch immer in seinen „coolen“ Vorgänger, Barack Obama, vernarrt sein. Er war die Personifikation eines Politikers, der immer alles unter Kontrolle hat und niemals die Fassung verliert. Und gewiss: Gegenüber Trumps Irrationalität und Impulsivität besaß Obamas Berechenbarkeit des Regierens klare Vorteile.

Man muss aber wissen, dass eine Politik der ruhigen Hand in den USA tendenziell verdächtigt wird, elitär zu sein. Wir Deutschen mögen eine reibungslos funktionierende, gut organisierte Bürokratie. Amerika und die Amerikaner ticken anders. Die Nation liebt es melodramatisch. Die Bürger mögen es, jemandem beim Scheitern zuzuschauen. Auch halten Amerikaner das Scheitern keineswegs per se für disqualifizierend solange sie beim Ablauf des Spektakels einen Ringplatz in der ersten Reihe einnehmen können.

Natürlich irritiert das Trump’sche Regierungschaos auch viele Menschen in den USA. Aber viele andere sehen selbst im dramatischen Absturz der Konjunktur, die die Menschen dort viel unmittelbarer betrifft, als das bei uns der Fall ist, keinen Grund, Trump abzuschreiben. Das gilt selbst bei mittlerweile mehr als 30 Millionen Arbeitslosen. Sie haben während der Pandemie nicht nur ihren Job, sondern oftmals auch ihre Krankenversicherung verloren.

Wie kann das sein? Einem Präsidenten unter solchen Umständen die Stange zu halten, würde Bürgern in anderen liberalen Demokratien des Westens wie ein kollektiver Akt des Wahnsinns erscheinen. Nicht so in den USA. Die altdeutsche Nibelungentreue, emotionsgeladen, bedingungslos und potenziell verhängnisvoll – jenseits des Atlantiks ist sie, in gründlich trivialisierter Form, noch anzutreffen.

Ausländische Beobachter, ebenso die US-Eliten, haben die Bedeutung des Reality-TV nie richtig einzuschätzen gewusst. Die Shows wirken auf sie irgendwie plebejisch, also abstoßend. Ganz anders Trump. Er hat den Fernseh-Trash immer als elektronische Bauchnabelschnur verstanden, über die er sich mit dem amerikanischen Volk symbiotisch verbunden weiß.

Die Kultur des Reality-TV beruht auf der Prämisse, sehr durchschnittliche, wenn nicht sogar eher anstößige Menschen schonungslos aus der Nähe zu beobachten. Die Darsteller weisen oft nur ein einziges besonderes Charaktermerkmal auf: ihren unbändigen Willen, sich zu entblößen. Ihr Exhibitionismus verbindet sie mit Donald Trump.

Aber das ist vielleicht noch nicht das Entscheidende. Denn die Figuren im Reality-TV sonnen sich ja nicht nur in banaler Eitelkeit, sondern machen sich in den Augen der Zuschauer auch ehrlich, indem sie dem Publikum schrankenlos Zugang in sämtliche Windungen ihrer mindestens halbdunklen Seele verschaffen. Kurzum: Sie stellen ihre Fehlerhaftigkeit geradezu aufs Podest.

So wie Trump das tut. Seine unverschämten Tweets und Coronapressekonferenzorgien sind gleichsam typenoffen: nicht nur für seine glühenden Fans, sondern auch für leidenschaftliche Demokraten und Journalisten ein Muss. Trumps Schamlosigkeit, seine Dreistigkeit und auch seine idiotischen Momente bilden in den USA so etwas wie den Sauerstoff des Politischen, mit dem er täglich die Medien beatmet, die über Klicks und Werbung ihre Einnahmen generieren.

Sein Konkurrent Joe Biden ist da ganz anders. Er genießt weithin einen guten Ruf, kann auf viel Erfahrung in öffentlichen Ämtern verweisen – und mag die Sehnsucht vieler Amerikaner nach einer Rückkehr zur Normalität verkörpern. Aber reicht das? Berufserfahrung ist nicht die Qualität, nach der die Wähler in den USA traditionell ihren Präsidenten aussuchen. Sie wollen sich auch aufwühlen, begeistern, mitreißen lassen. Das kann Joe Biden nicht bieten.

Politik als Killergeschäft

Auch spüren die Amerikaner, dass Politik ein Killergeschäft geworden ist. Erfolgreiche Kandidaten müssen Vitalität, wenn nicht gar Virilität vorweisen. Nicht der besser qualifizierte, ausgewogener argumentierende Kandidat hat die größten Siegeschancen. Sondern derjenige, der unter Einsatz aller Mittel entschlossener ist zu gewinnen. Biden verkörpert eine altfeudale Ära der US-Politik, als ehrwürdige, oft hochbetagte US-Senatoren die Geschicke des Landes lenkten – die Tage, als Frank Sinatra noch der König der Entertainer war und Doris Day das Sinnbild der modernen amerikanischen Frau. Doch diese Zeiten sind vorbei. Und sie werden auch nicht wiederkehren.

Mir scheint das der springende Punkt zu sein: Obwohl Trump 73 Jahre alt ist und dem Alter von Biden, 77, nahekommt, wirkt der amtierende Präsident vergleichsweise agil – und weniger erschöpft. Man kann ihm vieles vorwerfen, aber drei Dinge nicht: Trump ist nicht langweilig. Trump ist kein Berufspolitiker. Und Trump wirkt trotz seines Alters nie wirklich müde.

Dass er ständig einen Überschuss Adrenalin aufweist, mag für die Vereinigten Staaten und die Weltpolitik eine schlechte Nachricht sein. Aber für Trump selbst und die republikanische Partei ist es mit Blick auf die Wahlen eher eine gute Nachricht. Auch dass er sich nur auf sein Kurzzeitgedächtnis, seine Gehässigkeit und seine intellektuelle Armut verlassen kann, gereicht ihm nicht zum machtpolitischen Nachteil. Seine binäre Weltsicht, gepaart mit Schläue und Gewinnerlust, sind kein Ausdruck von Altersstarrsinn. Sondern Trumps Modus Operandi, seit er als junger Immobilienmogul in New York City ins Rampenlicht der Öffentlichkeit trat.

Der Kontrast zwischen Trump und Biden könnte also nicht stärker sein. Das gilt für das Thema politischer und mensch – licher Anstand. Aber eben auch für den Faktor politische und menschliche Energie. Bei allem Respekt: Biden ist während seiner (bisher kaum als solche zu bezeichnenden) „Kampagne“ vor allem wie seine eigene Geistererscheinung rüber – gekommen. Darüber hinaus hat er ein unglückliches Talent für haarsträubende Versprecher entwickelt, die Erinnerungen an Ronald Reagan wecken, der in seiner zweiten Amtszeit mit der Alzheimer-Krankheit zu kämpfen hatte: Mal bewirbt Biden sich bloß für den Senat, mal kennt er den chinesischen Staatspräsidenten nicht, mal verhaspelt er sich nur – und das oft in wichtigen Momenten einer Rede oder Debatte.

Das wohl größte politische Wunder, das Trump trotz seiner Fehler, seiner Arroganz und Schlichtheit vollbracht hat? Er hat es geschafft, die Standardrollen von Republikanern und Demokraten umzukehren. Die Republikaner stellen traditionell die bewahrende Partei der Alten; im Gegensatz dazu geben sich die Demokraten gern kennedy- und obamahaft dynamisch. Diese Welt steht jetzt, dank Biden, auf dem Kopf.

Und nicht nur dank Biden. Die Altersstruktur der gesamten Führungsriege der Demokraten ähnelt mittlerweile der des Politbüros sowjetischer Tage. Natürlich sehen Amerikaner mit Ende 70 heute fitter aus als die damaligen müden Männer Moskaus. Aber das ändert nichts am machtpolitischen Grundproblem der Demokraten im Jahr 2020: Nur sehr wenige Amerikaner glauben, gemessen an ihrem eigenen Leben und ihren Erwartungen, dass jemand wie Biden über die Kraft und Ausdauer verfügt, die turbulente Aufgabe des US-Präsidenten zu übernehmen.

„Advantage Trump“ also? Das ist gewiss nicht zu hoffen. Aber trotz aller Hoffnungen auf einen Kantersieg Bidens sollten wir uns als Worst-Case-Szenario auf die Groteske einer Wiederwahl Trumps einstellen.

Die mobile Version verlassen