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EU: Mischt Euch ein!

Verteidigungsminister Ursula von der Leyen

Erschienen in Spiegel Online.

Wir Europäer begehen im Umgang miteinander seit langen Jahren einen schweren Fehler: Aus irgendeinem Grund gilt es als unfein, sich bei gegebenem Anlass in die politischen Angelegenheiten unserer Nachbarn einzumischen.

Jüngstes Beispiel ist die Empörung, die Ursula von der Leyen nach einem Talkshowauftritt in Deutschland seitens des polnischen Aussenministers und der PiS-nahen Medien auf sich zog.

Zwar hätte unsere Verteidigungsministerin im polnischen Zusammenhang sicherlich nicht nicht das geschichtsmächtige Wort „Widerstand“ erwähnen sollen. Doch ist ihre Bereitschaft, sich für die polnische Zivilgesellschaft zu verwenden, unbedingt zu begrüssen. Zumal sie unter Bezug auf Solidarnosc auf die historische Beispielfunktion Polens in Europa hinwies, was eigentlich jeden polnischen Patrioten sehr erfreuen sollte.

Wie sollen wir je ein demokratisches Europa schaffen, wenn wir grenzüberschreitend nicht gewillt sind, mutige Taten wie das Engagement polnischer Frauen zum Schutz von Kernrechten gutzuheissen?

Immerhin vollzieht sich in Europa ja gerade ein intensives Gefecht zwischen Nationalisten und weltoffenen Menschen. Da ist Stillschweigen und Beiseitestehen nicht angebracht.

Und überhaupt: Wollen wir Europäer untereinander ernsthaft den Chinesen nachstreben und uns jedwede Kritik seitens unserer Nachbarn verbieten – und dies indigniert als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ abtun?

Bekanntlich leben die Chinesen in einem gänzlich anderen Kulturkreis und haben sich – im Unterschied zur EU – auch nicht auf den Pfad der politischen Integration begeben. Dennoch die polnische Regierung eine von denen in Europa, die offensichtlich will, dass wir die Chinesen nachmachen.

Drängende Probleme und mangelnde Souveränität der die EU-Mitgliedsländer

Die Mitgliedsländer haben sich bisher — wohl aus falschverstandener diplomatischer Höflichkeit — viel zu viel an Souveränität zugestanden. Kritik ist gut! Und gerade über Grenzen hinweg kann sie zur Auflockerung innenpolitischer Gefechtslagen beitragen.

Wer hingegen will, dass die EU-Mitgliedsländer angesichts all der wirklich drängenden Proble-me über mangelnde Souveränität seufzen, schafft ein Europa, in dem die Nationen nur nebeneinander herleben, ohne irgendiwe voranzukommen.

Den Schuh müssen gerade auch wir Deutsche uns anziehen, wenn man etwa betrachtet, wie es der deutschen Automobilindustrie immer wieder gelingt, die jeweilige Bundesregierung zu ihrem Schosshund zu machen.

Wie eine solche Einmischung in (vermeintlich) „innere“ Angelegenheiten konstruktiv collzogen werden kann, leben aktuell der französische Präsident Emmanuel Macron und sein Finanzminister Bruno LeMaire aktiv vor. Beide reisen auffällig häufig nach Deutschland.

Polen und Ungarn betreiben einen Kulturkampf gegen die Moderne

Der gutes deutsch sprechende LeMaire sucht auch gerade während der noch laufenden Koalitionsverhandlungen unter anderem das Gespräch mit FDP-Chef Lindner. Ziel ist, einen gemeinsamen Nenner in Sachen Europa zu finden, bevor gegebenfalls Dinge im Berliner Koalitionsvertrag festgezurrt werden, die sich dann gegenüber Frankreich alsbald als problematisch erweisen.

Nun darf man vom Modell einer bewusst betriebenen innenpolitischen Interferenz in den Partnerländern keine Wunder erwarten. Aber zumindest solange die EU nicht aufgelöst ist, müssen wir diesen Versuch zumindest ernsthaft unternehmen. Alles andere ist Augenwischerei.

Andernfalls spielt man dem Status quo und insbesondere den retardierenden Elementen in die Hände. Die Regierungen in Polen und Ungan etwa betreiben zuhause einen Kulturkampf gegen die Moderne und wollen keine Einmischung, dafür aber viele EU-Gelder.

Diesen Regierungen geht es nur um ihre ideologischen und sonstigen Partikularinteressen, selbst wenn ihre bornierte Haltung der Volkswirtschaft ihres Landes schadet. Das ist natürlich ihr gutes Recht – genauso wie es anderen Nationen in einem offenen Europa gestattet sein muss, in der Debatte andere Positionen einzubringen.

Zumindest hilft es den Reformkräften, wenn sich andere Länder, die mit bestimmten sach-politischen Ansätzen erfolgversprechende Erfahrungen gemacht haben, in die Debatte von Nachbarn einmischen.

So ernst sollten wir Europäer uns untereinander wenigstens nehmen. Denn als europäische Partner haben wir nun einmal ein qualitativ anderes Verhältnis zueinander als die Chinesen, das selbstgeglaubte „Reich der Mitte“, es zum gesamten Rest der Welt hat.

Wenn sich einzelne europäische Länder als „Chinesen“ outen wollen, weil sie keine konstruktive Kritik oder Alternativvorschläge hören wollen, dann verraten sie ja eher ihre eigene Zukunft (und vor allem die ihrer eigenen Nachw

Ohne Zweifel sind grenzüberschreitende Reformdiskussionen alles andere als einfach oder gemütlich. Aber wenn wir sie nicht wenigstens unternehmen und stattdessen weiterhin wie die Chinesen am Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten festhalten, dann können wir das Projekt EU auch gleich aufgeben.

Denn je später sich einzelne Länder zu den anstehenden Reformen durchringen, desto weniger Wachstum gibt es. Und dementsprechend – zumal in alternden Gesellschaften – auch immer weniger zu verteilen.

Die Erkenntnis, das eingefrorene innenpolitische Gefechtslagen durch einen solchen grenzüberschreitenden Dialog zumindest aufgemischt werden können, ist das mindeste, was die Bürger Europas einander schulden.

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