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Die Vereinigten Staaten werden schleichend russifiziert

 

Erschienen in Handelsblatt (PDF)

Sie wirken eigentlich sehr gegensätzlich – allein schon historisch. Doch die USA steuern politisch und gesellschaftlich auf ein Russland 2.0 zu.

 

Bei allem Fokus auf Trump und seine Russland-„Connection“ ist aus europäischer Sicht eines schon sehr verwunderlich: Die US-Demokraten und -Republikaner suchen mit größter Intensität nach den Spurenelementen Russlands in ihrem Land vornehmlich an den falschen Orten.

So hoffen die Demokraten nach wie vor darauf, die Wahl Donald Trumps wegen russischer Wahlmanipulationen irgendwie rückgängig machen zu können. Unterdessen sind die Republikaner zu grenzenlosen „Russlandverstehern“ geworden. Dabei war ein strikter Antikommunismus und dann Anti-Putinismus immer ein Markenkern der Republikaner.

Die jüngsten Vorfälle bei Facebook kommen den eigentlichen Parallelen schon deutlich näher: Sowjetische Machthaber träumten immer davon, das Verhalten der Menschen im Land steuern zu können.

Trotz aller Agitprop-Bestrebungen blieb ihnen hierfür letztlich nur die brutale Unterdrückung der Bevölkerung. Facebook offeriert da dank des technischen Fortschritts viel subtilere Instrumente, um für die Politik einen gläsernen Menschen zu schaffen.

Keine Zahl aber rückt die schleichende „Russifizierung“ der USA deutlicher ins Licht, als dass die Löhne in den USA seit 1979 – also seit bald vier Jahrzehnten! – real nicht gestiegen sind. Dafür verdienen die Plutokraten im Lande umso fürstlicher.

Aus Warte der Einkommensentwicklung und -verteilung ist es daher durchaus zutreffend, die USA als ein feudalistisches Regime zu beschreiben, das offiziell als Demokratie firmiert.

Um diese Tatsache im Lebensalltag zu übertünchen, sind Demokraten und Republikaner in seltener Eintracht seit Jahrzehnten eifrig darum bemüht, so gut wie jedem Amerikaner die Zugehörigkeit zur Mittelschicht zu bescheinigen.

Der Versuch, der breiten Masse eine heile Welt vorzugaukeln, ist eine besonders unschöne Parallele zwischen den USA von heute und der mittlerweile untergegangenen Sowjetunion.

Denn die Flucht der Politik vor den sozialen Realitäten mittels einer rhetorisch-ideologischen Überhöhung war ja, wenngleich auf einer anderen Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung, ein besonderes Merkmal der Sowjetunion.

Um soziale Inklusion sicherzustellen, genügt es eben nicht, so wie seinerzeit Präsident John F. Kennedy floskelhaft davon zu sprechen, dass eine (wirtschaftliche) „Flut die Boote aller Menschen anhebt“. Auch Obamas selbstverliebte Variante – „Audacity of Hope“ („Hoffnung wagen“) – mag ein kluges Wortspiel gewesen sein.

Aber im Gegensatz zur Praxis des 44. US-Präsidenten sollte man den eigenen Aufstieg nicht zum Gesellschaftsprinzip verklären. Die Demokraten, besonders ihre reichen Spender, scherte das wenig. Sie ergötzten sich an Obamas Aufstieg. Ihnen kam es vor, als ob mit ihm nicht nur der Rassen-, sondern obendrein auch noch der Sozialkonflikt im Land behoben worden wäre.

Zusammenbruch der Unterschicht

In der Realität erleben wir gerade den systemischen Zusammenbruch der amerikanischen Arbeiterschaft. Dass ausgerechnet Trump der politische Nutznießer dieser Entwicklung ist, stellt eine besondere Form der Dialektik dar.

Aus europäischer Sicht verwundert, warum es angesichts der sozialen Missstände nicht zu ernsthaften Protestaktionen kommt. Ein Erklärungsansatz ist, dass die US-Unterschicht in ihrer stillschweigenden Leidensfähigkeit den russischen Brüdern überraschend seelenverwandt ist.

In einer für die Vormacht des Westens besonders peinlichen Art und Weise spiegelt sich dieser soziale Zusammenbruch à la russe aktuell etwa in der rückläufigen US-Lebenserwartung wider (erstmals seit dem Ausbruch der Aids-Krise).

Opioide sind die neue Haupttodesursache für Amerikaner unter 50 Jahren. 2016 wurden davon mehr Menschen hingerafft, als in den Spitzenzeiten der US-Auto-Crashs in den 1970er-Jahren ums Leben kamen. Die Parallelen dieser sozialen Trends, die allzu sehr an die nachsowjetisch-russische Erfahrung mit Drogen, Alkohol und Depressionen erinnern, liegen auf der Hand.

Eine weitere, politisch besonders heikle Ausprägung der „Russifizierung“ ist, dass man sich in den USA zu Recht über Putins systematische Versuche der Unterdrückung der Wahlbeteiligung aufregt.

Dort können progressive politische Kräfte (wie Alexei Navalny) nicht einmal als Kandidaten antreten. In den USA aber gibt es das auch, nur vollzieht sich dieser Mechanismus auf eine indirektere, subtile, aber nicht minder effektive Weise.

Dort werden nicht Kandidaten an der Aufstellung gehindert, sondern die Wahlberechtigten am Wahlgang. Republikanisch geführte Bundesstaaten legen den Armen und Minderheiten reihenweise administrative Steine in den Weg, um sie an einer Ausübung ihres eigentlich in der so hoch gerühmten Verfassung verbrieften Wahlrechts zu hindern.

Nicht genug der Russifizierungsparallelen: Russland hat seine Oligarchen, die USA haben ihre Plutokraten. Die konkreten Methoden ihres jeweiligen Aufstiegs sind zwar kultur- und entwicklungsbedingt anders.

Russlands heutige Milliardäre gewannen ihr Vermögen aufgrund stark diskontierter Akquisitionen von früheren staatlichen Unternehmen während der postsowjetischen Privatisierung sowie durch die Nähe zu Putin.

US-Plutokraten nutzten entweder ihr Erbe, ritten die Hightech-Welle, bluteten als Corporate Raiders erworbene Firmen oftmals relativ verantwortungslos aus oder reüssierten als Private-Equity- und Hedgefondsmanager.

In beiden Ländern operiert man also häufig auf der Basis eines Insidernetzwerks. Mit dem feinen Unterschied, dass im Fall der USA eher die Investmentbanken (und nicht der Geheimdienst FSB beziehungsweise der KGB) als Spinne im Netz des grotesken Selbstbereicherungsapparats sitzen.

Die Übermacht der Plutokraten

Es ist gar nicht so erstaunlich, wie sehr diese Form der Russifizierung der USA nicht nur den Republikanern, sondern auch der Demokratischen Partei gefiel. Denn so konnten sie sich von den Dealprofiteuren üppige Schutzgelder einholen, die offiziell als Wahlkampfspenden in den Büchern der Parteien stehen.

Ein probates Mittel, eine Gesellschaft trotz des übergroßen Reichtums an der Spitze der Einkommenspyramide ins Tara zu bringen, wäre natürlich die Einführung einer fairen Steuerpolitik.

Das ist, was andere Nationen tun, in denen die Demokratie nicht nur auf dem Schild umhergetragen wird. Doch nichts liegt der politischen Klasse der USA ferner. Für viele ist der vorrangige Geschäftszweck, das politische Amt zu nutzen, um anschließend zur Einkommenselite zu gehören (siehe den enormen materiellen Aufstieg der Clintons). Daher verbietet es sich natürlich für beide Parteien, die Reichen in ihren materiellen Interessen anzugehen.

Der Unterschied zu Russland ist, dass die Russen viel „zupackender“ vorgehen – und auch vor Morden nicht zurückscheuen. In den USA müssen die dortigen Eliten die Politiker ja nicht einmal – in justiziabler Form – aktiv bestechen.

Dies erfolgt viel neutraler mittels Spenden an die beiden Parteien. Das macht den Umgang mit der Politik für die US-Plutokraten persönlich wenig riskant. Dennoch ist die Vorgehensweise keinesfalls demokratischer, demokratischer wäre allein die strikte Begrenzung von Wahlkampfspenden.

Ganz offensichtlich ist auch Trumps Gerede von den Fake News Teil der Russifizierung der USA. Genaugenommen ist Trumps Medienschelte im postreligiösen Zeitalter eine klassische Form des Opiums fürs Volk.

Mit seiner vermeintlichen „America first“-Botschaft verschleiert er nur seine Entschlossenheit, die materielle Situation der amerikanischen „Nomenklatura“ zu schützen, das heißt die der oberen 0,1 Prozent – wie er es mit seinem Tax Cuts and Jobs Act von 2017 ja schnell getan hat. Vor diesem Hintergrund versteht man auch Trumps stetes Bemühen besser, nach Vorliebe dem „bösen“ Ausland die Schuld für allerlei Missstände im Land zuzuweisen – egal, ob das die Deutschen, die Mexikaner oder die Chinesen sind. Er will so von den sehr realen Problemen ablenken, denen die amerikanische Arbeiterschaft gegenübersteht.

Strukturelle Nicht-Demokratie

Ist es mit Blick auf die USA eine Übertreibung, von einem ausufernden Proletariat zu sprechen? Das hört sich sehr harsch an. Aber wie sonst könnte man vor dem gesamten Hintergrund der Geschichte der industriellen Modernisierung die große gesellschaftliche Gruppe derer in den USA nennen, die selbst heute, gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, nur äußerst wenige soziale und politische Rechte haben?

Menschen, die praktisch keine Sozial- und Krankenversicherung haben, keine bezahlten Ferien, keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub oder keine anderen sozialpolitischen Errungenschaften. All das gehört in anderen reichen Nationen zum Basisstandard.

Das ist umso frappierender, als gerade die Republikaner immer wieder mit stolzgeschwellter Brust davon reden, dass die USA das reichste Land auf Erden sind. Deshalb ist man geradezu gezwungen, sich im Umkehrschluss die Frage zu stellen: Ist es nicht gerade die systematische Ausgrenzung dieser wachsenden Gruppe, die das Wirtschaften so profitabel macht? Boomt die US-Börse gerade deshalb?

Der soziale Abstieg vieler Amerikaner, der auch die Mittelschicht ergriffen hat, begann lange vor der Wahl Trumps zum Präsidenten. Die US-Demokraten tragen für die eingetretene Fehlentwicklung erhebliche Mitverantwortung. Immerhin stellten sie seit 1992 für stolze 16 von 25 Jahren – also fast zwei Drittel des zurückliegenden Vierteljahrhunderts – den US-Präsidenten.

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