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Die doppelte Dolchstoß-Legende der Energiepolitik

Credit: Deutsches Historisches Museum

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USA

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In der Energie- und Klimapolitik können sich die Parteien nur über eines einigen: Schuld haben immer die anderen. Statt realistisch und pragmatisch die Folgen ihres Tuns für Standort, Wachstum und Arbeitsmarkt zu prüfen, bauen die Lager lieber argumentativ vor – für das Scheitern. Ein Trauerspiel.

Wenn wir als Nation nicht viel Fortüne haben, dann wird uns die Energiewende nicht gelingen. In keiner anderen Nation der Welt wird diese Transformationsaufgabe in ähnlich zeitlich rigoroser sowie konzeptionell engstirniger Weise verfolgt. Schon jetzt zeichnen sich durch die Abwanderung der Industrie in Richtung USA und enorme Kostenbelastungen der Privathaushalte wirtschaftliche Verwerfungen ab, die weit über das hinausreichen, was lange angenommen wurde.

Statt sich im Interesse der gemeinsamen Bewältigung der anstehenden enormen Herausforderungen zusammenzuraufen, konzentrieren sich die politischen Parteien zunehmend auf etwas ganz Anderes. Sie basteln am Aufbau von Narrativen, die die alleinige Verantwortung für das perspektivische Scheitern der Energiewende dem jeweiligen politischen Widersacher zuweisen. Was uns also ins Haus steht, ist wieder einmal die Entstehung einer Dolchstoßlegende – diesmal allerdings gleich in doppelter Ausführung.

Wir erinnern uns: Im unmittelbaren Gefolge des Ersten Weltkrieges gab es hierzulande schon einmal eine Dolchstoßlegende. Damals ging es um den äußerst fadenscheinigen Versuch von Nationalisten, Kaisertreuen, Militaristen und der extremen Rechten, sich ihrer gemeinsamen Verantwortung für den vom Deutschen Reich verlorenen Krieg zu entziehen und diese allein der politischen Linken zur Last zu legen.

Auf die Dolchstoß-Konstellation von heute übertragen werfen sich die Forcierer der Klimawende und ihre Widersacher gegenseitig Unnachgiebigkeit, mangelnden Kompromisswillen und fehlenden Realitätssinn vor. Sie werden die Verantwortung für negative Konsequenzen auf Wachstum und Jobs von sich weisen. Und sie werden behaupten, dass der klimapolitische Kurs der Gegenseite dem Standort Deutschland, der Zukunft des Landes und überhaupt der Nation geschadet hat.

Im Vergleich zur Konstellation nach dem Ersten Weltkrieg gibt es heute aber einen großen Twist. Diesmal positionieren sich die Sozialdemokraten unter der Ägide von Olaf Scholz in beiden (!) Dolchstoßlegenden-Lagern. Durch diesen kuriosen Kurs versuchen sie nicht nur, politische Verantwortung von sich abzuwenden. Obendrein versuchen sie, sowohl die Grünen auf der einen und die Union und die FDP auf der anderen Seite aufs Kreuz zu legen, um sich selbst politisch schadlos zu halten.

Die Grünen und ihre Unterstützer werden im Fall des Scheiterns der Energiewende in erster Linie argumentieren, dass ihre Pläne sehr wohl ambitioniert gewesen seien. Aber angesichts des aufgestauten Handlungsbedarfs waren sie realistisch und alternativlos. Ihre gut ausgearbeiteten Pläne seien hauptsächlich am Widerstand der überparteilichen Zweifler- und Verzögererfraktion gescheitert.

Nachrangig werden die Grünen argumentieren, dass sie eigentlich gar keine Chance mehr hatten, etwas Vernünftiges zu erreichen, als sie im Herbst 2021 mit der Ampel-Koalition endlich an die relevanten Machthebel im Bund gelangten. Ergo: Hätten sie früher loslegen können, wäre ihnen die Umsetzung ihrer ambitionierten Ziele sehr wohl gelungen.

Diese Erzählung beruht zum Gutteil auf Selbstmythologisierung. So waren die Grünen an vielen Landesregierungen beteiligt (und haben diese mitunter auch angeführt), ohne dass es dort umweltpolitisch zu überzeugenderen Resultaten gekommen wäre. Der Kernfehler der Grünen war ein ausgeprägter Hang zum Mikromanagement bei gleichzeitig hochriskanter Versorgungsplanung. Im Gegensatz zur angestammten deutschen Verwaltungstradition beruht ihr Ansatz auf vielerlei Wunschdenken. Das überrascht insofern nicht, als Robert Habeck im Ministerium auf Staatssekretärsebene mit Patrick Graichen und Sven Giegold eine aktivistisch angetriebene Wagenburg baute und im Wesentlichen nur auf den Applaus der Grünen-Bundestagsfraktion schielte.

Dem Team Habeck gelang es nicht, selbst mit Unternehmensführungen, die sich der Klimaneutralität verschrieben haben und Milliarden dafür investieren, eine konstruktive Gesprächsebene aufzubauen. Stattdessen versucht man, die Industrie mit Subventionen abzuspeisen. Fatal auch, dass Robert Habeck es nicht verstanden hat, im Interesse der politischen Vermittlung seines Kurses frühzeitig auf Brückenbauerinnen wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm zu setzen. Sie wäre übrigens auch eine hochkompetente Nachfolgerin von Patrick Graichen. Mit dem Insistieren auf dem Atom-Aus beraubten sich die Grünen der Glaubwürdigkeit gegenüber der breiten politischen Mitte, die zurecht um den Strompreis sehr besorgt ist und ihnen das kostensteigernde Aus der AKWs nicht nachsehen wird.

Um von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken, argumentieren wiederum Politiker vor allem aus dem Lager der Union, dass der grüne Kurs viel zu wenig durchdacht war (siehe das simple, aber effektive Bild von der Politik mit der „Brechstange“). Die seitens der Union verbreitete Dolchstoßlegende wird fälschlicherweise behaupten, dass im Land wirtschafts-, klima- und energiepolitisch alles weitgehend gut in Schuss war, bis es den Grünen faktisch gelang, die Ampel zu kapern.

Auch diese Thesenführung ist ziemlich fadenscheinig. CDU und CSU werden für immer die politische Verantwortung dafür tragen, dass sich Angela Merkel während ihres politischen Aufstiegs und vor allem in den vielen Jahren im Kanzleramt allenfalls aus machtpolitischen oder koalitionsarithmetischen Gründen als Umweltpolitikerin inszenierte.

So war etwa der von ihr im März 2011 verkündete Ausstieg aus der Kernenergie nach dem Fukushima-Vorfall die Anzahlung auf eine schwarz-grüne Koalition. Wer das nicht glaubt, muss sich eine passende Antwort auf den Einwurf des damaligen französischen Staatspräsidenten ausdenken. Nicolas Sarkozy fragte Merkel damals mit entwaffnender Direktheit, seit wann denn in Deutschland mit Tsunamis zu rechnen sei.

Und jenseits von Merkel? Dort manifestierte sich der umweltpolitische Eifer der Unionsparteien allzu häufig im Herauskehren der biblischen Schöpfungsgeschichte. Zumeist ist das nur ein Lippenbekenntnis, denn vor irgendwelchen irdischen Implikationen dieses Narrativs laufen Politiker der Union regelmäßig davon. Immerhin ist dieser Ansatz konzeptionell in sich stimmiger als die permanente umweltpolitische Doppelzüngigkeit des Unionssupremos Markus Söder in Bayern.

Wer allerdings glaubt, dass sowohl die Grünen als auch Union oder FDP mit dem Schuldzuweisungsspiel unverantwortlich handeln, der sollte sich eingehender mit der Chuzpe der SPD auseinandersetzen. Die sieht sich nämlich – ganz bewusst eher stillschweigend – als Teil von beiden Dolchstoßlegenden-Lagern. Einerseits tut die SPD ihr Bestes, ihre eigene umweltpolitische Verantwortung aus den Jahren der großen Koalition vollkommen unter den Teppich zu kehren. Andererseits gibt man sich vor allem in der SPD-Fraktion als rhetorischer Blutsbruder der Grünen in Sachen klimapolitischer Ambitionen.

Und Olaf Scholz? Der hypet in einer für einen Hanseaten vollkommen unverständlichen Weise ein bevorstehendes zweites deutsches Wirtschaftswunder herbei. Und wiederholt sein Mantra von täglich fünf neuen Windrädern und dutzenden neuen Feldern an Solaranlagen. Die sind leider eine Schimäre. Statt nüchtern und sachlich – also hanseatisch – zu argumentieren, wirkt der Kanzler eher wie ein blauäugiger Cheerleader, der zu viele Happiness-Pillen geschluckt hat.

Hinter diesen Verrenkungen steckt wohl das Bestreben der deutschen Sozialdemokratie, sich unbeschadet zu halten. Doch die SPD trägt in der Tat wesentliche (Mit-)Verantwortung für ein mögliches Scheitern der Energiewende. Denn seit 1998 ist sie die einzige Partei in Deutschland, die mit Ausnahme vor vier Jahren permanent an der Bundesregierung beteiligt war.

Der Versuch, das eigene Fehlverhalten durch den Verweis auf die weitgehend unbestreitbaren Fehler von Vorgängerregierungen oder des politischen Widersachers rechtfertigen zu wollen, läuft in der Summe auf einen politischen Taschenspielertrick hinaus. Ein derartiges systematisches Weglaufen vor der eigenen politischen Verantwortung trägt nur weiter zur Infantilisierung der Politik bei. Vor allem ist es aber für Parteien, die je für sich die Kompetenz für das Zukunftsmanagement einer hochkomplexen Industriegesellschaft reklamieren, vollkommen unpassend.

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