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Was wird mit dem Deutschland-Bonus?

Erschienen in Handelsblatt (URL) | (PDF)

Die überfällige „Entmerkelung“ der Republik hat mit der Bundestagswahl begonnen.

• Die vergangenen 16 Jahre haben wir Deutschen, unterstützt von einer lang anhaltenden Hochkonjunktur, uns kollektiv schöngeredet.

• Die deutsche Verwaltung dient mittlerweile vor allem sich selbst – und nicht einmal mehr dem Staat.

Die Wahl ist vorbei, als mögliches neues Bündnis zeichnet sich eine Ampel- oder eine Jamaikakoalition ab. Bei aller Aufmerksamkeit, die Armin Laschets Lacher im Wahlkampf erhielt, könnte nun auch Kevin Kühnerts „Luftikus“-Bemerkung in Richtung Christian Lindner entscheidende Bedeutung zukommen. Denn neben politischen Substanzfragen geht es koalitionspolitisch ja auch um die Frage: Wer kann mit wem?

Und dabei hat Laschet, der schwache Wahlkämpfer, in Sachen Umgänglichkeit und Moderation durchaus einen Vorteil. Auch einer inhaltlich orientierungslos gewordenen Union könnte viel daran liegen, eine zeitgemäße programmatische Wiederaufladung über eine Jamaikakoalition zu vollziehen. Zumal die mangelnde inhaltliche Kohärenz der Union sie koalitionspolitisch sehr flexibel macht.

Auch wenn viele jetzt mit der Ampel rechnen – für Jamaika sprechen nicht zuletzt die Parallelen im sozioökonomischen Profil der Wähler dieser vier Parteien. Vielleicht wirkte Olaf Scholz auch deshalb in der Berliner Runde am Sonntagabend reichlich zurückgenommen. Laschet ist also noch nicht aus dem Kanzlerrennen, auch wenn man sich ihn auf internationaler Bühne kaum als Schwergewicht gegenüber Wladimir Putin oder Xi Jinping vorstellen kann.

In jedem Fall sollte es der Zukunftsfähigkeit unseres Landes dienen, dass die beiden Parteien mit dem größten Rückhalt in der jungen Generation – Grüne und FDP – jetzt die Kanzlermacher der Bundesrepublik sind. Vor allem aber dürfte nun die Arbeit an der längst überfälligen „Entmerkelung“ der Republik beginnen. Die vergangenen 16 Jahre haben wir Deutschen, unterstützt von einer langanhaltenden Hochkonjunktur, uns kollektiv schöngeredet.

Wir haben Merkels Sedierung der Gesellschaft geschätzt

Wer kritische Fragen stellte, wurde schnell mit einem „Uns geht’s ja noch gold“ abgewatscht – obwohl sich etwa die veralteten deutschen Brücken und Straßen immer mehr in Richtung der maroden US-Infrastruktur entwickelten. Überhaupt sind wir in der Ära von Angela Merkel amerikanischer geworden. Lange hatte gegolten, die Amerikaner seien vor allem in Public Relations stark, aber nicht in der tatsächlichen Performance. Für Deutschland galt – vor Merkel – die umgekehrte Gleichung.

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, alle Schuld für eingetretene Fehlentwicklungen der Kanzlerin aufzubürden. Als Moderatorin der Nation hat sie es exzellent verstanden, uns zu betäuben. Das eigentliche Problem ist, dass wir diese Sedierung als Gesellschaft nicht nur zugelassen haben. Wir haben es sogar genau so gewollt! Mit anderen Worten: Der deutsche Michel sind wir alle. Dabei läuft der oft gehörte Einwand: „Welche Nation macht es denn besser?“ ins Leere. Wir sollten uns lieber fragen: „Wer macht was besser als wir?“, um davon konkret lernen zu können.

Im Wahlkampf gab sich – neben dem mittlerweile fast allparteilichen Willen zur Verfahrensbeschleunigung – der merkelisierende, rautenformende Kanzlerkandidat Scholz geradezu omnipotent: stabile Renten, faire Mieten, sichere Arbeit, Klimaschutz. Alles löbliche Ziele, die allerdings – so wie bei den meisten anderen Parteien – oft schon an einfachen Dreisatzrechnungen scheitern. So geht bereits jetzt ein Viertel des Bundeshaushalts als Zuschuss in die Rentenversicherung. Dennoch soll die Lebensarbeitszeit nicht verlängert werden und am reinen Umlageverfahren festgehalten werden. Generationengerechtigkeit geht anders.

Dass Politiker solche Tatsachen aus Gründen der politischen Opportunität kaum ansprechen, mag auf der Hand liegen. Dass allerdings auch die TV-Interviewer im Wahlkampf nur selten imstande waren, den Bürgern finanzielle Zusammenhänge aufzuzeigen, ist schlicht inakzeptabel. Was ist ein Journalismus wert, der Politiker mit Stanzen und Sprechblasen davonkommen lässt und sich nur an Spekulationen über Koalitionsarithmetik abarbeitet?

Die Energie-Rechnung ist ohne den Wirt gemacht

Wie eine Seifenblase zerplatzen wird in den kommenden Jahren die größte Illusion der Deutschen: dass wir internationaler Trendsetter in der Klimapolitik wären. Eine Energiewende ist ohne Frage notwendig, nur baut die deutsche Version gleich auf mehreren Luftschlössern auf. So glauben die meisten Deutschen, schon heute komme etwa die Hälfte unserer Primärenergie aus erneuerbaren Quellen. In Wahrheit liegt der Anteil bei rund 17 Prozent.

Dass wir klimapolitisch nur ungern über die Grenze schauen, liegt auch daran, dass wichtige europäische Nachbarn ihre guten Emissionswerte nicht zuletzt über Atomstrom erreichen. Wir hingegen glauben mit missionarischem Eifer daran, mit dem Ausstieg aus Kernenergie und Kohle die ganze Welt retten zu können.

Als illusionär dürfte sich auch erweisen, dass unser Transformationsmodell stark darauf beruht, viel erneuerbare Energien aus dem Ausland importieren zu können. Diese Rechnung ist ohne den Wirt gemacht – schließlich stehen andere Nationen vor derselben industriellen Transformationsaufgabe und haben selbst einen enormen Bedarf an erneuerbaren Energien. Inwieweit sie dann noch in der Lage sein werden, viel zu exportieren, erscheint zumindest fraglich.

Umgekehrt gilt: Die Ansage, dass wir über Klima- und Umweltinnovationen der deutschen Industrie wichtige Zukunftsmärkte erschließen können, ist völlig richtig. Zumal China etwa im Maschinenbau auf gutem Weg ist, vom Hauptabnehmer zu unserem Hauptkonkurrenten zu werden. Jüngst hat es uns in der einstigen deutschen Vorzeigebranche vom Podest des Exportweltmeisters gestürzt.

Wird der Deutschland-Bonus zum Malus?

In den internationalen Medien zeichnete sich kurz vor der Wahl ab, dass sich der langjährige Deutschland-Bonus in einen Deutschland-Malus verwandelt. Das hängt auch damit zusammen, dass unsere öffentliche Verwaltung mit ihren aus dem 19. Jahrhundert stammenden Strukturen zum politischen Risikofaktor geworden ist, wie wir insbesondere in der Corona-Anfangsphase gesehen haben.

Charakteristisch ist, dass wir in Deutschland von „Staatsdienern“ reden, die Amerikaner hingegen traditionell von „civil servants“, von Dienern der Zivilgesellschaft. Die deutsche Verwaltung, dieser Eindruck drängt sich auf, dient mittlerweile vor allem sich selbst – und nicht einmal mehr dem Staat.

Wegen des wirtschafts- und strukturpolitischen Stillstands in der Merkel-Ära drohen traditionelle deutsche Qualitäten wie vorausschauende Infrastrukturplanung und ergebnisorientiertes Zusammenwirken von Politik und Wirtschaft bald nur noch Erinnerungsposten zu sein. Mit anderen Worten: Wir leben von unserer vergangenen Reputation. Defizite in der nach wie vor autoversessenen „Mobilitätspolitik“, eine zweit- bis drittklassige Digitalinfrastruktur und die unökonomisch verhunzte Energiewende sind Anzeichen des Versagens.

Was bedeutet das für Unternehmen? Während sie lange im Windschatten der deutschen Politik segeln konnten, geht es jetzt auch für sie darum, an einer wirklichen Wende mitzuarbeiten. Denn sonst gilt der alte Spruch: mitgefangen, mitgehangen.

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