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Warum es Zeit ist, für Gerhard Schröder als Kanzler eine Lanze zu brechen

Erschienen in Handelsblatt (PDF) | (URL)

Dass der Altkanzler mit seiner Treue für Putin seinen moralischen Kompass verloren hat, steht außer Frage. Dennoch habe er Deutschland in seiner Kanzlerschaft aber entscheidend weitergebracht.

In der heutigen Zeit des politischen Stillstands in Deutschland ist es keine Überraschung, dass in offensichtlicher Anlehnung an Gerhard Schröders Reformwerk „Agenda 2010“ immer wieder neue Rufe nach einer „Agenda 2030“ erschallen. Dass Schröder nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers seinen moralischen Kompass völlig verlor, indem er sich so eng mit Wladimir Putin einließ, steht außer Frage. Auch die aktuelle TV-Dokumentation „Außer Dienst?“ anlässlich seines 80. Geburtstags erzählt von einem selbstgerechten Mann, der in seiner sehr eigenen Welt verstrickt bleibt.

Doch geht über all dieses nicht verloren, was Schröder in seiner Amtszeit als Kanzler für die Bundesrepublik tatsächlich geschafft hat?

Schröders Agenda 2010 brachte den dringend benötigten Entwicklungs- und Wachstumsschub

Zunächst einmal: Bei aller Abneigung gegen Schröder aufgrund seiner Nähe zum System Putin sollte man eines nicht vergessen: Er beging seine Assistenztaten für den russischen Diktator erst nach seiner Zeit im Bundeskanzleramt. Das war bei seiner Nachfolgerin Angela Merkel anders. Sie leistete ihre Dienste zur finanziellen Förderung des Putin-Regimes in ihrer Amtszeit aus dem Bundeskanzleramt heraus.

Das ist nicht nur moralisch ein gravierender Unterschied. Und: Bis heute kann Merkel die Bedenken nicht ausräumen, mit ihrer Ermöglichung der prorussischen Geschäfte dem Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben der Ukraine in den Rücken gefallen zu sein. Im Rückblick hat es den Anschein, dass die angeblich so risikoscheue Bundeskanzlerin so gut wie kein politisches und wirtschaftliches Risikomanagement betrieben hat.

Wohl jeder, der die politische Karriere Schröders seit den 1980er-Jahren verfolgt hatte, war immer davon ausgegangen, dass er tendenziell ein selbstsüchtiger Filou war. Er gefiel sich in seinen Brioni-Anzügen und mit Cohiba-Zigarren und betrieb das Geschäft der hohen Politik hauptsächlich deshalb, so schien es, weil es ihm persönlich einen ständigen Kick gab, im Mittelpunkt zu stehen.

Die Ironie der Geschichte ist jedoch, dass es ausgerechnet Gerhard Schröder war, der im Interesse der Umsetzung seiner Agenda 2010 nicht nur seine Wiederwahl 2005 riskierte, sondern dies auch sehr bewusst in Kauf nahm. Für Schröder zählte es im entscheidenden Moment mehr, das Richtige für Deutschland zu tun als für sich selbst.

Auch wenn es seine Sozialdemokraten und alle deutschen Politiker links der Mitte heute nicht mehr wahrhaben wollen, aber mit seinen strukturellen Reformen verschaffte Schröder dem Erfolgsmodell Deutschland für weitere 15 Jahre den damals dringend benötigten Entwicklungs- und Wachstumsschub.

Unter Angela Merkel wurde das politische Erbe Schröders rückwirkend peu à peu abgewickelt

Diese Vorlage nutzte Merkel nicht. Stattdessen setzte sie sich in das von ihrem Amtsvorgänger aufbereitete Regierungsbett und tat strukturreformerisch so gut wie nichts. Dafür agierte sie, wo und wie immer sie nur konnte, als fleißige Erfüllungsgehilfin beim Bestreben ihres sozialdemokratischen Koalitionspartners, das Erbe Schröders nicht nur zu verleugnen, sondern rückwirkend peu à peu abzuwickeln. Da überrascht es nicht, dass sie im Rückblick wohl als die erfolgreichste „sozialdemokratische Kanzlerin“ in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen wird.

Merkel ging es trotz ihres vermeintlich selbstlosen Images meist nur um sich selbst. Im Zentrum ihres Amtshandelns stand das alleinige Ziel des Machterhalts. Dem ordnete sie alle sachpolitischen Ziele unter. Gute Reformpolitik hätte ja bedeutet, zu riskieren, dass sie in den Meinungsumfragen nicht länger top sein würde. Um das zu vermeiden, wollte sie um jeden Preis keine echten Reformen in Angriff nehmen, auch wenn diese immer überfälliger wurden.

Schröder hingegen scheint sich im Rückblick auf seine Kanzlerschaft als das zu entpuppen, was wir Merkel immer zu ihren Gunsten unterstellt haben, nämlich als mutiger Reformer. Merkel erweist sich in der Rückschau eher als eine oftmals verantwortungslos agierende Person, für die wir Gerhard Schröder als Kanzler immer gehalten haben.

Dies stellt auch die übliche Rollenverteilung zwischen dem, was wir herkömmlicherweise immer für konservativ gehalten haben, und dem, was gemeinhin als vaterlandsloses Treiben beschrieben wurde, auf den Kopf: Der SPD-Bundeskanzler war der Konservative, während die CDU-Bundeskanzlerin im Amt allzu oft – auch im Verhältnis zu China – risikomaximierend und gegen die Reforminteressen Deutschlands gehandelt hat.

Was uns der Amtsinhaber Gerhard Schröder, nicht der Ex-Kanzler lehrt, ist, gegebenenfalls über den eigenen Schatten zu springen und im Interesse des Landes – nicht der eigenen Person oder Partei – notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Das zu tun ist heute noch wichtiger als damals. Eine „zweite Merkel“, wie sie Olaf Scholz weiterhin mimt, können wir uns als Nation nicht leisten.

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