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Jimmy Carter hatte recht

Erschienen in Handelsblatt (PDF)

Die USA sind seit Ronald Reagan auf dem falschen Weg. Statt den Wohlstand auf eine immer breitere gesellschaftliche Basis zu stellen, dient die US-Politik seit den frühen 1980er Jahren vor allem den Eliten des Landes.

Der 15. Juli 1979 war ein harter Tag für die kollektive Psyche der Amerikaner. An diesem Tag wagte es ein amerikanischer Präsident, harte Fragen an sein eigenes Volk zu richten. Jimmy Carters Rede aus dem Oval Office ging in die Geschichte als „malaise speech“ ein. Dabei war sie visionär. Hätten die Amerikaner zugehört, stünden sie heute besser da.

Die Probleme und Reformnotwendigkeiten, die Carter vor über 35 Jahren beim Namen nannte – allen voran die ungelösten Fragen von nachhaltiger Energiegewinnung und Ressourcenverbrauch –sind in Amerika weiterhin offene Punkte auf der Tagesordnung.

Anders als die Stoßrichtung, die Carter seinem Land vorgeben wollte, kam es zu einem Kulturwandel, in dessen Verlauf die USA in die völlig falsche Richtung trieben.

Amerika wendete sich unter seinem Amtsnachfolger Reagan abrupt von den bisherigen deutsch eingefärbten Wurzeln seiner volkswirtschaftlichen Strukturen ab. An dessen Stelle wurde fortan das „englische“ Modell stärker forciert denn je. Letzteres ist traditionell elitär ausgerichtet und zielt vor allem auf die Maximierung der finanziellen Position der Menschen an der Spitze der Einkommenspyramide ab.

Das deutsche Modell strebt hingegen viel stärker nach einer stabilen sozioökonomischen Balance. Es berücksichtigt neben den Belangen von Unternehmen und Kapital auch die Interessen der Beschäftigten und organisiert eine solide gesellschaftliche Infrastruktur.

Die Folgen dieses rigiden, von Ronald Reagan schlagartig eingeführten Kurswechsels sind im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bis zum heutigen Tag deutlich zu spüren. Die profunde Ironie besteht darin, dass viele Amerikaner nun in der Tat ein Lied davon singen können, was es heißt, in einer „malaise“ zu stecken.

Allerdings gilt das in einem ganz anderen Sinn, als es Carters Kritiker ihm damals in die Schuhe schieben wollten. Mit der bewussten Verwendung des politischen Schlagbegriffes „Malaise“ hatten sie jedwede Veränderung der politischen Prioritäten der USA kategorisch abwenden wollen.

Die Malaise, die in der Tat eingetreten ist, besteht darin, dass nun jenseits der gesellschaftlichen Eliten – der oberen 1-3% — heute fast alle anderen sozialen Gruppen auf der Stelle treten, wenn sie nicht an Boden verlieren.

Die Nichtbeachtung des Appells Carters ist auch deshalb so unglücklich für die USA, als das Land lange mit der Praktizierung des deutschen Modells gute Erfahrungen gesammelt hatte. Dies beruhte nicht zuletzt darauf, dass viele deutschstämmige Einwohner weit über ein Jahrhundert hinaus das Land entscheidend mitgeprägt haben.

Der Aufstieg der USA zur Weltmacht wäre die Verbindung der Gemeinwohlverpflichtung der Wirtschaft mit dem Streben nach gleichen Bildungschancen für alle kaum vorstellbar gewesen.

Unter diesen Vorzeichen war Mitte des 20. Jahrhunderts die sozioökonomische Balance in den Vereinigten Staaten von der Utopie zum durchaus realistischen Ziel geworden. Davon können die Amerikaner heute nur noch träumen.

Statt ihren Wohlstand auf eine immer breitere gesellschaftliche Basis zu stellen, begannen die USA in den 1980er Jahren ihren folgenschweren Irrmarsch. Bald ging es nur noch um die Interessen eines kleinen Teils der Bevölkerung, vor allem die Maximierung von Aktionärsinteressen. Allzu viele Menschen wurden auf diese Weise an den Rand gedrängt.

Es wäre indes verfehlt, die Schuld an der Mutation der USA allein vor der Tür von Präsident Ronald Reagan und seinen Republikanern abzuladen. Letztlich manifestiert sich hier ein kollektives Versagen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, auch der Führungseliten der Demokratischen Partei, denen es eher an der eigenen Teilhabe an diesen Reichtümern als um gesellschaftliche Fairness ging. Die Clintons sind hierfür das Paradebeispiel.

Die Erkenntnis, dass die amerikanische Wohlstandsumverteilung zugunsten der ohnehin schon Reichen das Land keineswegs stärker, sondern schwächer macht, ist erst jetzt wieder zum Vorschein getreten.

Jimmy Carter hat schon 1979 den Amerikanern die Augen dafür öffnen wollen, dass es neben der materiellen auch eine immaterielle Ebene der Lebenszufriedenheit gibt und dass mehr soziale Gleichheit ein erstrebenswertes Gut ist.

Die heutige junge Generation in den USA täte gut daran, intensiv über diesen Appell nachzudenken. Ebenso wichtig ist, dass die amerikanische Nation Jimmy Carters weitsichtigen Rat befolgt, die Energie- und Umweltschutzaufgaben endlich anzupacken.

Liegt das Versagen Amerikas vielleicht darin begründet, so fragte Carter die Amerikaner vor bald vier Jahrzehnten, „dass sich zu viele Bürger nur noch Konsum und Genusssucht hingeben“? Das klingt so, als hätte er diese Worte erst gestern ausgesprochen.

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