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Unrealistische Brexit-Erwartungen: Englands ewiger Wunsch nach der Extrawurst

Shealah Craighead/White House

Erschienen in Spiegel Online.

Darfs auch ein wenig softer sein? Selbst wenn sich jüngst die Stimmen bei den regierenden britischen Konservativen mehren, die von der harten Brexit-Linie auf eine etwas weichere einschwenken wollen, sind die Tories doch von einem felsenfest überzeugt: Für die Briten wird es einen besonderen Deal geben – eine Offerte, die niemand jemals irgendeiner anderen EU-Mitgliedsnation machen würde.

Was sich aus Sicht der Kontinentaleuropäer wie enorme Arroganz ausnimmt, offenbart einen geradezu unheimlichen Glauben an einen britischen „Exzeptionalismus“. Der Tory-Elite geht es dabei nur vordergründig um große Ideen wie die „Souveränität“. Im Kern steckt hinter dieser Position ein bemerkenswertes Extrawurstdenken.

Wer in einem der restlichen 27 EU-Länder lebt, mag über die Haltung der britischen Regierung auch deshalb so erstaunt sein, weil die Briten den anderen über viele Jahre mit großer Intensität die Regelgebundenheit und das Exklusive des Klublebens vorgelebt haben.

Und so sehen Kontinentaleuropäer die EU in der Tat wie einen Klub an, der vor allem deshalb nicht auseinanderbricht, weil man sich an die selbstgegebenen Regeln hält. Die Tories hingegen betrachten die EU zu weiten Teilen als einen Selbstbedienungsladen, bei dem sie sich aussuchen können, welche Regeln ihnen passen und welche nicht.

Auf zur nächsten Extrawurst

Dieses permanente Streben nach der Extrawurst will die britische Regierung auch nach dem Austritt aus dem Klub fortsetzen. Am liebsten würde man auch in Zukunft zumindest weiterhin dem Exekutivausschuss der EU angehören, um so zu verhindern, dass der Klub etwas unternehmen könnte, was nicht im Interesse des Vereinigten Königreiches läge.

Worauf beruht dieses enorme Selbstbewusstsein? Es speist sich aus der Strahlkraft der britischen Geschichte – und der Tatsache, dass sich die Engländer als ein ultimativ ungebundenes Land verstehen. Im Grunde haben sie es bisher immer verstanden, aus der (temporären) Bindung an andere Kulturen großen wirtschaftlichen und finanziellen Nutzen zu ziehen.

Die EU reiht sich insofern aktuell in eine lange Reihe der Weltregionen ein, die von England einfach ad acta gelegt werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Man denke etwa an das Schicksal Indiens und Afrikas (oder auch Chinas). Die Attitüde, die die Tories heutzutage gegenüber Brüssel einnehmen, hat insofern durchaus etwas Koloniales an sich. So politisch wacklig Theresa May auch dasteht, sie und ihr Team geben sich noch immer so, als seien sie die „Viceroys“ von Brüssel.

Insbesondere die Londoner Wirtschafts- und Politikeliten sind seit Jahrhunderten wohlgeübt darin, England wie eine Art mobile Ölbohrinsel eifrig auf den Weltmeeren herum zu manövrieren.

Ihre oberste Maxime ist es dabei, möglichst immer dann in einer Region aufzutauchen und anzudocken, wenn dort die Wirtschaft gerade im Aufschwung ist – ganz natürlich für eine Handelsnation.

Weil dies bisher immer mehr oder weniger gut gegangen ist, marschieren Theresa May, Boris Johnson, David Davis und andere mit einer geradezu schlafwandlerischen Sicherheit in eine Richtung, die ausländische Freunde Großbritanniens für ein potenzielles Desaster halten.

Wer Zweifel an der Gültigkeit der These hat, der sei an die Maxime Benjamin Disraelis erinnert, der zufolge England stets besser damit fährt, keine permanenten Allianzen zu haben. Mit anderen Worten: Es will immer frei genug sein, eine andere, lukrativere Zone der Welt anzuschiffen, wenn das den eigenen Interessen besser dient.

Ein Blick in die moderne britische Wirtschaftsgeschichte belegt diese quasi-koloniale Einstellung nachdrücklich. Man denke etwa an das Jahr 1973. Damals kam es mittels des Eintritts in die EU zum Anschluss an das kontinentale Europa.

Warum? Ganz einfach: Die Wirtschaft Kontinentaleuropas wuchs damals oft doppelt so schnell wie die Inselwirtschaft. Ein Ankoppeln an den Kontinent war damals umso notwendiger, als das eigene britische Landesschiff zunehmend marode vor sich hin dümpelte. Das lag nicht zuletzt daran, dass das Land noch immer in den kruden Klassengegensätzen des Manchester-Kapitalismus gefangen war.

Kein Wunder, dass es just die Konservativen samt ihren Bündnispartnern in den Industriekonzernen und Banken waren, die damals – zur Zeit des britischen EU-Beitritts 1973 – zu dessen glühendsten Verfechtern gehörten, während die Labor Party damals eher abgeneigt war.

Ein kurioser Akt charakterlicher Flexibilität

Volkswirtschaften sind zyklisch und bewegen sich in langen Wellen. Irgendwann wuchs die europäische Wirtschaft nur noch langsamer. Die große Aufholjagd nach den Verwerfungen des 2. Weltkriegs war abgeschlossen.

Sobald dieser Moment kam, wurde Großbritannien unruhig und ging segeln. Der neue Favorit des Flottierers vom Dienst war sein ältester, nun wieder neuester „bester Freund“ – die dynamisch wachsenden Vereinigten Staaten.

Die Clinton-Boomjahre in den 1990ern brachten auch eine gehorsame Neuausrichtung der Außenpolitik Großbritanniens mit sich. Da die Vereinigten Staaten wirtschaftlich „heiß“ waren, wurde Tony Blair erst zum besten Freund von Bill Clinton. Dann machte er sich ganz merkantilistisch in einem kuriosen Akt charakterlicher Flexibilität (oder wohl eher extremer Selbstverleugnung) auch zum besten Freund von George W. Bush.

Amerikaner waren von diesem britischen Wandel angetan. Denn die Achse nach London erlaubte es den Vereinigten Staaten, die materiellen Interessen ihrer Investmentbanken auf dem kontinentaleuropäischen Markt zu maximieren.

Sobald die USA eher als „out“ galten, zeigte sich die Söldnernatur der britischen Geschäfts- und Politikeliten erneut. Sie waren nun eifrig bestrebt, den korrupten Eliten Russlands, Asiens und der arabischen Welt das eigene Land auf dem Silberlöffel zu reichen.

Und so wurden vor allem die Eigentumstitel für die feinsten Londoner Residenzen und Adressen an den jeweils Meistbietenden übertragen. Die Vermittler verdienten sich daran eine goldene Nase.

Die nächste erfolgversprechende Plattform, bei der das englische Schiff nun anzudocken suchte, war China. David Cameron und George Osborne, damals noch Premierminister bzw. Schatzkanzler, überboten einander in ihren servilen Ehrerbietungsbekundungen gen Peking. Das Vereinigte Königreich wurde umgehend als Chinas bester Freund in Europa, wenn nicht der ganzen Welt stilisiert.

Der plötzliche britische Eifer, China als den neuen Kaiser anzusehen, stellt freilich eine Umkehrung historischer Realitäten dar. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts hatte England mittels der Opiumkriege dazu beigetragen, Chinas Gesellschaft zu zerstören, um die eigene Zahlungsbilanz auszutarieren. Diese düsteren Zusammenhänge sind in chinesischen Köpfen noch sehr präsent.

Ein letzter verzweifelter Versuch

Wer andere Nationen über den Verlauf seiner Geschichte weniger als Partner und mehr als wirtschaftliche Extraktionsfelder angesehen hat, für den wird es auf Dauer schwierig. Denn das Manöver hat den enormen Nachteil, dass es in hohem Maße transparent ist.

Wie es aussieht, ist England jetzt kaum in der Lage, wieder irgendwo neu andocken zu können. Das ist die eigentliche Bedeutung des Brexit-Moments. Das Referendum symbolisiert einen letzten verzweifelten Versuch des Landes, seiner Geographie und seinem Schicksal in und mit Europa zu entkommen.

So sehr die Hälfte der Briten dem widerstreben mag, die Geographie des Landes verankert es unbestreitbar in Europa. Das Schicksal und die Aufgabe Großbritanniens ist es, Europa flexibler und weltgewandter zu machen. Das aber bedeutet in der Hauptsache, mit Deutschland (ausgerechnet!) gemeinsame Sache zu machen.

So gut wie alle Länder Europas würden eine Traditionswende des immer verwirrter flottierenden britischen Bohrturms sehr willkommen heißen. Denn sie wissen, dass eine pragmatische, realistisch verankerte britische Sicht Europa vorwärtsbringt.

Doch dazu müsste das Land endlich Frieden mit Europa schließen. Das würde helfen, den „alten“ Kontinent doch noch zu stimulieren. Vielleicht ist ja der immer fragwürdigere Fortbestand des „Vereinigten Königreichs“ Grund genug, eine Kehrtwende einzuleiten.

Und wenn das nicht ausreicht, sollte man die jüngere Generation fragen. Für diese Menschen ist die Integration in die EU keine Bürde, sondern eher Lebens- und Produktivitätsvoraussetzung.

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