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UK: Absurdes Theater

Ben Cremin/Flickr

Erschienen in Handelsblatt (PDF).

Die Brexit-Debatte in Großbritannien nimmt kurz vor dem Volksentscheid an Schärfe zu. Doch je vehementer sich in der Gesellschaft die Frustration über all das Bahn bricht, was in Brüssel – tatsächlich oder vermeintlich – zulasten der Insel schiefläuft, umso mehr gleicht das Ganze einem absurden Theater.

Denn die Briten hätten in Wirklichkeit allen Grund, sich zunächst einmal an die eigene Nase zu fassen und ihren antieuropäischen Gehässigkeiten ein neues Ziel zu geben: London ist das Musterbeispiel schlechthin für ebenjenen Staatsdirigismus, den britische Politiker aller Couleur bei der EU-Kommission so gern und routiniert anprangern.

Und genau dieser britische Zentralismus ist die eigentliche Ursache für viele Probleme des Landes. Aber natürlich ist es für britische Politiker und Bürger bequemer, die europäische Einmischung in nationale Angelegenheiten für die Mängel des britischen Systems und die Folgen der eigenen Überzentralisierung verantwortlich zu machen. Hier wird von interessierter Seite ein groß – angelegtes und hochriskantes Ablenkungsmanöver inszeniert.

Wenn Separatismus und Identitätskrisen den sozialen Zusammenhalt auf der Insel weiter schwächen – und das zeichnet sich unabhängig vom etwaigen Brexit ab-, dann dürfte es dem britischen Wahlvolk irgendwann dämmern, dass die eigentliche Gängelung „von außen“ nicht etwa von Brüssel organisiert wird, sondern aus London. Man muss der Cameron-Regierung zugutehalten, dass sie bereits eine Initiative gestartet hat, um die Verwaltung zu dezentralisieren. Von dieser Kampagne erhofft sich der Premier schon in wenigen Jahren handfeste Resultate. Doch das erscheint allzu optimistisch – zwanzig Jahre dürften ein realistischerer Zeithorizont sein.

Fragt man bei Camerons Spitzenbeamten nach, berichten sie Erstaunliches. Um das hehre Ziel einer Dynamisierung der regionalen Wirtschaft (die im Gegensatz zum boomenden London eklatant schwächelt) zu erreichen, soll jede kommunale Verwaltung Englands Vorschläge machen, welche Machtbefugnisse sie gerne von White hall übernehmen würde. Mehr Hand – lungsfreiheit vor Ort soll lokales Wirtschaftswachstum stimulieren, so der Plan.

Doch die Praxis zeigt, dass sich die lokalen Verwaltungen kaum in der Lage sehen, mit sinnvollen Vorschlägen aufzuwarten – und sich sogar für ihre eigene „Wunschliste“ Vorgaben aus London erhoffen. Das erinnert eher an Osteuropa 1990 als an eine westliche Demokratie im 21. Jahrhundert. Hier offenbaren sich die Folgen einer rigoros zentralistischen Finanz politik, mit der London die Kommunen weitgehend entmündigt hat.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet Großbritannien den Brüsseler Zentralismus lautstark attackiert, während es in Wirklichkeit doch viel mehr unter der eigenen zentralistischen Kurzsichtigkeit zu leiden hat. Vor allem das seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer allmächtiger gewordene britische Schatzamt geriert sich auch heute noch gern royal, so als ob es nicht Teil einer demokratischen Regierung, sondern der verlängerte Arm der Monarchie sei.

Den lokalen Instanzen bleibt da kaum Luft zum Atmen, geschweige denn für den kreativen Einsatz finanzieller Mittel. So verwundert es nicht, dass unter den Metropolregionen des Vereinigten Königreichs nur London den landesweiten Wohlstandsdurchschnitt übertrifft, während der Rest des Landes längst abgehängt ist. Ganz anders verhält es sich in Deutschland. Dort hat vor allem der so oft als „ineffizient“ geschmähte Föderalismus dafür gesorgt, dass mehrere Macht- und Wirtschaftszentren entstanden sind.

Ob der Brexit nun kommt oder nicht: Premier Cameron wäre gut beraten, sich auf die dringend nötigen Reformen im eigenen Land zu konzentrieren. Dort den ineffizienten Zentralismus durch eine stärker föderale Ordnung abzulösen, die ein gesundes Wachstum stimulieren würde, dürfte sich als mindestens ebenso schwierig erweisen wie die von ihm geforderten EU-Reformen.

Sollte das Land tatsächlich aus der EU austreten, würde das den Reformbedarf Großbritanniens nur noch deutlicher werden lassen. Bleibt der Brexit aus, darf die Regierung nicht in ihre alte europakritische Attitüde zurückfallen. Denn nicht Brüssel, sondern London schafft die Probleme für das Land.

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