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UK: Schwere Identitätskrise

Tom Evans/Number 10

Erschienen in Handelsblatt (PDF).

Die wirkliche Bedeutung des BrexitVotums geht weit über die entstehenden Probleme im Lebensalltag hinaus. Der Wunsch von Millionen Briten, Europa den Rücken zu kehren, beleuchtet schonungslos die mannigfaltigen Unausgegorenheiten im politischen System Großbritanniens. An vorderster Stelle steht die Lebenslüge des britischen politischen Systems. Das Land verkauft sich gerne nicht nur als die älteste, sondern auch als die beste Demokratie der Welt.

Schön wär’s. Inzwischen aber versteht auch der Rest der Welt, dass es um die famosen „checks and balances“ – also der wohlverstandenen Ausgewogenheit des politischen Systems mit zahlreichen Kontrollmöglichkeiten – alles andere als gut bestellt ist.

Die Inseldemokratie lebt letztendlich unter dem Diktat des jeweiligen Premierministers, egal ob von den Tories oder von Labour. Dieser kann stets wie eine quasiroyale Figur in vielerlei Hinsicht nach eigenem Gutdünken schalten und walten. Und eben auch einmal ein Referendum lancieren, das jetzt zumindest rückwirkend wie Neros Spiel mit dem Feuer anmutet. Aber als Korrektiv gibt es doch noch die gesamte politische Klasse, die einem Premierminister, wenn der sich verrennen sollte, rechtzeitig Einhalt gebieten kann!

Schön wär’s. In Wirklichkeit haben wesentliche Teile des politischen Establishments des Landes unter Beweis gestellt, dass sie – wie etwa David Cameron – heimlich von Nero, dem Kaiser des Römischen Reichs, fasziniert waren. Bei so vielen Zündlern entpuppt sich die sagenumwobene britische Demokratie schnell als Spielwiese wenig rücksichtsvoller, vor allem von sich selbst faszinierter Individuen.

Politik verkommt da schnell zum Spiel der Selbstunterhaltung. Am schlimmsten wiegt dabei wohl, dass der vorgebliche Dienst am Volkswillen eher nur eine billigend in Kauf genommene Nebenveranstaltung zu werden droht. Der Umstand, dass die tonangebenden Politiker sich dabei oftmals schon aus Schülertagen in elitärsten sozialen Zirkeln kennen, hilft der Sache der britischen Demokratie nicht wirklich.

Das Hauptproblem geht indes weit über die Ungereimtheiten des politischen Systems hinaus. Im Kern bezeugt der Brexit die Tiefe des britischen Identitätsproblems. Was haben die anderen europäischen Nationen – und gerade die Briten – nicht jahrzehntelang verwundert, wenn nicht belustigt, nach Deutschland und auf unsere hiesige postfaschistische Identitätsdebatte geschaut.

Doch im Rückblick ist auch klar: Deutschland hat sich dieser Debatte gestellt und ist sich deshalb deutlicher bewusst, wer und was wir sind (und auch, was wir an Schandtaten epochaler Größe begangen haben). In Großbritannien steht das allerdings noch aus. Bestenfalls kann man sagen, dass die Aufarbeitung jetzt in die Gänge kommt.

Was das Ganze nachhaltig kompliziert, ist, dass die Briten immer schon sehr viel, sehr großzügig und sehr geschickt unter den Teppich gekehrt haben. Da ist nicht nur die noch immer weitgehend nicht aufgearbeitete Kolonialvergangenheit etwa in Afrika, China und Indien. Auch auf der britischen Insel liegt offensichtlich vieles im Unreinen. Wie dort politisch zum Beispiel mit Schottland und Nordirland umgegangen wird, muss uns deutsche Föderalisten erstaunen. Andere schwelende Identitätsbrände, die weit über alles hinausgehen, was wir in Deutschland zu bewältigen haben, sind die folgenden vier:

Erstens: London versus den Rest des Landes. Die Hauptstadt thront wirtschaftlich, kulturell und politisch unangenehm deutlich über allen anderen Metropolen des Landes. Im gesamten Rest des Landes, vor allem aber im Norden und der Mitte, hat man das Gefühl, nur ein Wurmfortsatz zu sein.

Zweitens: Elite versus Plebs. Erstere nutzen die Politik als ihre ureigene, exklusive Spielwiese und schauen mehr oder minder deutlich auf das britische Volk herab. Letzteres hat auch deshalb mit dem Brexit-Votum einen erstaunlichen Klassenreflex manifestiert. Das hatte ganz deutliche „Ihr da oben, wir da unten“-Bezüge.

Drittens: Das britische politische System ist nach wie vor viel zu binär. Das führt zwar zu viel Spektakel, aber zu sehr wenig echter repräsentativer Demokratie. Man mag von UKIP rein gar nichts halten; dass aber eine Partei nur ein Mandat erhalten hat, obwohl diese bei der letzten Unterhauswahl 12,6 Prozent aller Stimmen erhielt, zeugt von den Mängeln des politischen Systems. Immerhin erhielten die Konservativen stolze 331 Mandate, obwohl sie mit 36,9 Prozent nicht einmal das Dreifache des Stimmenanteils von UKIP erreicht hatten.

Die britische Politik ist gut im Erschaffen von diametralen Gegensätzen. Ihr fehlt es aber, im Unterschied zum wohl austarierten deutschen System, am Kreieren des „common ground“. Das ist ein fataler Regiefehler.

Viertens: In einem sind das Volk und die elitä- re, quasiroyale Spitze der Politik kurioserweise dennoch vereint: Sie glauben, sich zugutehalten zu können, dass die Welt es Großbritannien schulde, sich so gerieren zu dürfen, wie es den Briten gerade in den Kopf kommt. Aber just an diesem Punkt haben die Briten jetzt das Ende der Fahnenstange erreicht. Die Ausnahmerolle, auf die sie angeblich historisch begründet einen Anspruch zu haben meinen, ist keine feste Grö- ße, sondern eine politische: Sie war schon immer eine reine Funktion imperialer Macht. Gerade diese aber ist den Briten inzwischen ganz verloren gegangen.

Bei aller Freundschaft werden deshalb auch die Briten lernen müssen, fortan ihre Rolle im Konzert der Nationen zu spielen. Nicht mehr – und nicht weniger. Der damit verbundene Kulturschock wird für sie leider sehr hart sein.

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