stephan-g-richter.de

Jochen Buchsteiners Buch: Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie

Erschienen in Tagesspiegel

Nein, ein Buch über den Brexit, dieses Wahnsinnsmanöver der Briten, ist dies zum Glück nicht. Das wäre auch kaum interessant. Stattdessen wird uns vor dem Hintergrund der britischen „Flucht“ eine politische Standortbestimmung Europas geboten. Eine bilaterale Geschichte von Anziehung und Abstoßung.

Mit nur 136 Seiten handelt es sich um einen relativ schmalen Band. Das ist aber für jeden Leser umso gewinnbringender ist. Allzu viele Autoren verfangen sich im seitenlangen Beschreiben von hinlänglich Bekanntem. Nicht so Buchsteiner. Er wählt jedes Wort mit großer Prägnanz. Dabei schöpft er aus dem Vollem der britischen und europäischen Geistesgeschichte und versieht seine Einsichten obendrein oftmals mit einem Twist.

Buchsteiner, seit einigen Jahren politischer Korrespondent der FAZ in Großbritannien, hegt ohne Frage Sympathien für den Wunsch der Briten, bei der fortschreitenden „EU-isierung“ aller Lebensbereiche nicht länger mitmachen zu wollen. Gerade dies macht die Lektüre so reizvoll. Denn dadurch schneidet der Autor viele der Fragen, die sich gerade auch überzeugte Europäer stellen müssten, nicht ab. Diese Fragen mögen unbequem sein, sind aber notwendig.

Vielleicht das Beste an Buchsteiners „Flucht der Briten“ ist, dass das Buch auch weit über den Kreis politisch Interessierter hinaus gelesen werden kann – sogar als smartes Reisebuch für Großbritannienreisende oder auch sonstige Europareisende. Buchsteiner arbeitet aus dem Fundus der Geschichte und Kultur viele Einsichten zusammen, die den Leser zum Nachdenken verleiten.

So beschreibt der Autor etwa Englands Bruch mit Rom unter Heinrich VIII. als den „ersten Brexit.“ Auch die erstaunlicherweise bis heute zum Tragen kommende, extrem imperiale Attitüde der britischen Eliten spießt er auf („von 191 UN-Mitgliedern hat das Land 171 erobert oder zumindest überfallen,“ zitiert er Boris Johnson). Aber auch die Nonchalance, mit der nach wie vor in Sachen Sklaverei und Kolonialismus vorgegangen wird. Oder die historische Tatsache, dass Europa immer dann politische Probleme hatte, wenn die Briten sich vom Kontinent fernhielten.

Damit hält er gerade uns aktuell so sehr auf uns selbst bezogenen Deutschen einen Spiegel zur Selbstreflektion vor. So beschreibt der Autor lustvoll die Tendenz in der britischen Debattenkultur, politisch inkorrekt zu sein, um anstehende Fragen radikal auszuloten.

In gewisser Weise ist Buchsteiners Buch das westeuropäische Pendant zu Ivan Krastevs im letzten Sommer erschienenen „Europadämmerung“. Auch dieser Titel umfasste nur 143 Seiten, warf aber aus Sicht eines der smartesten Osteuropäer sehr relevante Fragen über die europäische Integration auf, mit denen man sich als interessierter Zeitgenosse auseinandersetzen sollte.

 

Die mobile Version verlassen