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Eine Tragödie namens FDP

Erschienen in Handelsblatt (URL) | (PDF)

• Wer glaubt, dass die tiefe Krise der FDP allein auf Christian Lindner zurückzuführen ist, greift viel zu kurz. Es fehlt eine klare Programmatik.

• Mit seiner schillernden Persönlichkeit mag Lindner der Partei sogar geholfen haben, ihre programmatischen und sonstigen personellen Mängel zu überdecken.

Jetzt, wo sich nicht nur die politischen Claqueure der Berliner Republik, sondern zunehmend auch die FDP selbst auf ihren Vorsitzenden Christian Lindner einschießen, ist es höchste Zeit für die Partei, sich endlich ehrlich zu machen. Natürlich hat Christian Lindner Fehler gemacht, zum Teil auch gravierende. Und natürlich ist er ein eitler Mensch, der Züge eines Dorian Gray trägt.

Aber damit den Absturz der FDP von 10,7% im September 2017 auf um die 5% (Stand heute) erklären zu wollen, greift viel zu kurz. Das eigentliche Problem der Partei besteht darin, dass selbst in ihrem Innern kaum noch jemand definieren kann, wofür sie eigentlich steht. Wie bei einem Rohrschach-Test liest so gut wie jeder liberale Parteigänger in die Programmatik das hinein, was er oder sie persönlich favorisiert.

Den resultierenden Gemischtwarenladen kann sich eine große (Volks-)Partei wie die CDU leisten, muss es sogar. Aber eine kleine Partei wie FDP braucht, obwohl sie längst kein Start-Up mehr ist, eine effektive „Elevator Speech“. Mit der muss sie es ermöglichen, binnen 30 Sekunden mit maximal zwei Programmpunkten die Essenz ihres ganzen politischen Wirkens zu definieren.

Diese Mühe hat sich die FDP bisher nicht gemacht. Sie hat das zum Teil deshalb nicht getan, weil Christian Lindner und sie vor Jahren einen eher fatalen Pakt miteinander geschlossen haben. Mittels der Übertragung aller Verantwortung auf ihn, den großen Marketing-Experten, entschloss man sich zu einem reinen Personality-Marketing. Darauf versteht sich Lindner seit seinen auf Stern-TV dokumentierten Oberstufenschülertagen.

Lange Zeit funktionierte Lindners favorisiertes Marketingkonzept der Selbstinszenierung als eine Art Davidoff-Zigarrilloraucher dabei ziemlich gut. In einer deutschen Politikszene, die seit dem Abgang von Gerhard Schröder eher von gleichförmigen Maschinenpolitikern beherrscht ist, war sein Mut zur persönlichen Zurschaustellung wenigstens stilistisch etwas anderes.

Aber im Unterschied zu zwei führenden SPD-Frauen, die auch auf Charme und Persönlichkeitsmarketing setzen, Familienministerin Franziska Giffey sowie die – zum Glück wieder genesene – mecklenburg-vorpommersche Ministerpräsidentin Manuela Schwesig war Lindner nur selten diszipliniert genug, um bei Fernsehauftritten unter Rekurs auf die Parteiprogrammatik dem breiteren Publikum gegenüber werbend aufzutreten.

Lindners „Message“ war jedes Mal eine andere: Mal anti-Umwelt, mal AfD-nah, mal schwäbische Hausfrau, durchsetzt mit gelegentlichen Spurenelementen unternehmerischer Innovation. Und bei alledem in der Sache durchaus zurecht vor der „Sozialdemokratisierung“ der deutschen Politik warnend. Lindner tut dies allerdings, ohne zu bekennen, dass er persönlich durch seinen Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen hierfür die politische Verantwortung trägt.

Mit Blick auf die aktuell katastrophale Lage der FDP muss man freilich auch sehen, dass die Lindner-Show das programmatische Problem der Partei lange Zeit überdecken konnte. Insofern hat Lindner seiner Partei geholfen, attraktiver zu wirken als sie es inhaltlich war.

Nun ist es in der Politik ja nichts neues, wenn der Parteivorsitzende eher auf Schein denn auf Sein ausgerichtet ist und sich darauf konzentriert, in der Öffentlichkeit zu wirken. Normalerweise stellt man ihm dann eine(n) stellvertretende(n) Parteivorsitzende(n) an die Seite, der oder die mit analytischer Tiefe und Sachdisziplin die inhaltliche Fokussierung des Parteiprogramms vorantreiben kann.

Genau an dieser Stelle hat sich die FDP vollkommen verrannt. Dass Wolfgang Kubicki, der noch mehr Galan ist als Lindner selbst, seit Dezember 2013 sein Stellvertreter ist, bleibt vollkommen unverständlich. Die einzige Rechtfertigung hierfür ist, dass zwei hocheitle Menschen einen temporären Burgfrieden miteinander geschlossen haben. Dieser vermeintlich elegante Schachzug erweist sich immer mehr als doppelte Nulllösung.

Das programmatische Problem der FDP existiert auf drei strukturellen Ebenen:

Erstens hat die Partei es nie verstanden, die politische Signifikanz der Umdefinition des Wortes „liberal“ – und damit ihres wesentlichen Identifikationsmerkmals – in „neoliberal“ in ihrer Tragweite auch nur annähernd zu begreifen.

Noch weniger hat die Partei sich aufgemacht, intellektuell dagegen anzugehen, obwohl das sehr wohl möglich ist. Wer sich aber von anderen definieren lässt, hat die politische Schlacht um die eigene Zukunft in gewisser Weise schon verloren, bevor sie eigentlich geschlagen wird.

Zweitens – und dies ist der Hauptgrund der Schwäche der FDP – gibt es in der Partei auf Bundesebene niemanden, der oder die in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Idee einer marktorientierten Wirtschaftspolitik verbunden wird. Es geht da nicht unbedingt um einen „neuen Lambsdorff“. Aber Otto Graf Lambsdorff, der Mann mit dem Silberknauf, war gewiss lange Zeit ein Markenzeichen der Partei. Ob zurecht oder nicht, ihm wurde geglaubt, dass er die Wirtschaft verstand.

Das dritte Kernproblem der FDP sind ihre erschlafften innerparteilichen Stämme, die eher ein zusammenhangloses Sammelsurium darstellen. So sehr sich etwa die alte, ehrenvolle Garde der Gerhard Baums und Leutheusser-Schnarrenbergers bemüht, bei Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Lauschangriffe, Online-Durchsuchungen, humane Asylpolitik und der universellen Geltung der Menschenrechte zu punkten, ist das für die FDP von heute faktisch eine (partei-)politische mission impossible. Denn diese Position wird von den Grünen inzwischen mit sehr viel mehr Dynamik und politischem Gewicht verkörpert.

Was bietet sich dann für eine kleine, aber feine Randpartei wie die FDP als Alleinstellungsmerkmal an? Zur Beantwortung dieser Frage muss man nicht einmal die Marktforschung bemühen. Es genügt, sich an die Themensetzung im Wahlkampf 2017 zu erinnern. Mit der Identifikation des Innovationsthemas und der Digitalisierung hatte Lindner damals gleich doppelt auf das richtige Pferd gesetzt.

Und genau darin besteht die eigentliche Tragik des Christian Lindner – und die latente Tragödie seiner Partei. Lindner blieb bei dieser Themensetzung nicht diszipliniert am Ball. Außerdem haben auch andere in der Fraktion im Anschluss an die Kampagne 2017 nicht entschlossen genug an der inhaltlichen Auffüllung dieser Wahlkampfforderungen gearbeitet.

Wenn das geschehen wäre, hätte die FDP im Moment des Auftretens der Corona-Pandemie solide punkten können. Nach dem Motto: klein, aber fein – und der Zeit voraus. Das ist ausgeblieben.

Schlimmer noch: Wäre Christian Lindner ein disziplinierter Politiker, der er nicht ist, hätte er allein aufgrund der Positionierung von 2017 in allen Corona-Diskussionen im Fernsehen, in Interviews und auf Twitter konsequent punkten können. Nach dem Motto: Wir mögen nur eine kleine Partei sein, haben aber auf die Bedeutung der digitalen Dimension für unseren Lebensalltag seit langem konsequent hingewiesen.

Sich dafür einzusetzen, dass Menschen in den Schulen, den Universitäten, im Beruf und der Berufsbildung bis hin zu den Pflegeheimen in der Lage sein sollten, mittels Digitalisierung für sich einen produktiven Lebensalltag gestalten zu können, wäre ein überzeugender politischer Kurs gewesen. Er hätte der Partei sogar neue Wählerpotentiale erschlossen, inklusive Zugang zur U30-Generation.

Mit anderen Worten: Ein Triumph des Marketing. Zukunftsträchtige Themenfelder, die von anderen Parteien nicht (über-)besetzt sind. Auf diese Weise hätte Lindner nicht nur konstruktive Oppositionspolitik betrieben können, sondern seiner Partei auch ein attraktives und in sich konsistentes politisches Narrativ verschafft.

Ein bisschen so, wie die Neos in Österreich. Oder im deutschen Rahmen als eine Art Wiederauferstehung der Piratenpartei – bürgerlicher, pragmatischer und unternehmerisch ausgerichtet.

Aber stattdessen konnte Lindner seiner Neigung zur Impulsivität nicht widerstehen. Eine ganze Weile trat er mit irrlichternden Einlassungen zum Corona-Thema hervor, bis hin zur Freiheitsberaubung. Dabei bewies er nur von neuem einen für jeden Liberalen nicht nur peinlichen, sondern intolerablen Denkfehler.

Virologen dafür zu kritisieren, dass sie – im Licht neuer Erkenntnisse – ihre Meinung ändern, ist aus liberaler Sicht vorsintflutlich. Karl Poppers Idee der Falsifizierung als Methode des Erkenntnisfortschritts ist nun wirklich liberales Urgestein. In diesem Zusammenhang wird überdeutlich, dass der FDP offensichtlich ein Gesundheitspolitiker von Gewicht fehlt.

So wirkte ihr Vorsitzender allein von der Motivation getrieben, die Regierung – egal von woher und egal in welcher Richtung – zu attackieren. Aber das verschafft der FDP kein Alleinstellungsmerkmal, was der Marketingexperte Lindner eigentlich wissen sollte.

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