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Jenseits von Las Vegas: Die amerikanische „Un-Gesellschaft“

Smarterlam/Flickr

Veröffentlicht in Handelsblatt unter Reise ans Ende der Nacht (PDF).

Die wesentliche Lektion aus dem jüngsten US-Inferno, diesmal in Las Vegas, reicht weit über das zynische Wirken der National Rifle Association, die Allmacht der Lobbys oder die faktische Käuflichkeit von wahlkampfspendensüchtigen US-Kongressabgeordneten hinaus. Bei genauer Betrachtung unterstreicht die jüngste Waffenepisode eine erschreckende Tatsache: die Idee der Existenz einer amerikanischen „Gesellschaft“ verkommt immer stärker zur Fiktion.

Denn einem bedeutenden Teil der in den USA lebenden Menschen fehlt es im Kern an dem Willen oder sogar der Überzeugung, dass es anstrebenswert ist, zusammenleben zu wollen. Zwar wird in diesem Zusammenhang immer schnell auf die sozialen Medien geschimpft. In Wirklichkeit sind diese ein Instrument, dem grassierenden Unwillen, aufeinander zuzugehen, Ausdruck zu geben. Sie sind aber nicht dessen Ursache.

Der in dieser „Kanalisierung“ der Emotionen zum Ausdruck kommende Wille, auseinanderzustreben und nicht etwa, wie in Europa seit jeher, aufeinander zu hocken, gehört zu den Gründungsmotiven der USA. Die Siedler haben immer das Weite gesucht, wenn ihnen jemand für ihr subjektives Gefühl zu nahekam.

Auch aus diesem Grund sind die USA – ähnlich den Riten, die Afghanistan seit jeher prägen – immer stärker von tribalistischen Strukturen zersetzt. Die in der unteren Einkommenshälfte fortdauernde Wirtschaftskrise verstärkt diese immer schon latenten Tendenzen.

Während sich die einen so bei Videobeispielen an der Gewalt berauschen, verzweifeln die anderen an der abgrundtiefen Menschenverachtung, die darin zum Ausdruck kommt. Da passt es in geradezu alttestamentarischer Form ins Bild, dass in dem vermeintlich ewig optimistischen Amerika seit dem 11. September 2001 die Furcht grassiert; denn der Anschlag auf den World Trade Center wurde ja von dem damals in der afghanischen Grenzregion residierenden Osama bin Laden gesteuert.

Die alltägliche Gegenwart von Gewalt und Angst sollten in einer funktionierenden Gesellschaft eigentlich dazu führen, die dem zugrundeliegenden Missstände zu beseitigen. Davon kann in den USA aber keine Rede sein.

Es kommt noch eklatanter: der augenscheinlich seit langem überfällige Kompromiss bzw. das zivilisatorisch gebotene Umdenken (bzw. zumindest die gemeinsame Suche nach Lösungen) wird gar nicht ernsthaft angestrebt. Er wird von circa 40% der Bevölkerung eher als Teufelszeug angesehen. Dem Beharren auf dem eigenen Weltbild wird gegenüber der Bereitschaft zum Zusammenleben eindeutig Priorität eingeräumt.

Der amerikanische Kongress ist Ausdruck dieser kollektiven Impotenz. Obwohl beide Häuser des Parlaments in puncto Mitarbeitern und dergleichen bestens ausgestattet sind, herrscht hier faktisch Gesetzgebungsnotstand. Man bekommt seit Jahren nichts mehr geregelt. Die enorme Anzahl der von Abgeordneten eingebrachten Gesetzgebungsentwürfe steht im umgekehrten Verhältnis zu tatsächlich verabschiedeten Gesetzen.

Dieses Bild spiegelt sich auch im amerikanischen Alltag wieder. Nicht nur unter Geschäftspartnern, sondern auch in der eigenen Nachbarschaft zieht man es vor, über die neuesten Filme zu reden, statt sich in irgendeiner Form auf das neuralgische Thema Politik einzulassen. Die historischen Assoziationen, die das vor dem Hintergrund unserer Geschichte in deutschen Gemütern auslöst, kann sich jeder selbst ausmalen.

Anhand des Vorfalls in Las Vegas wird sich erneut beweisen, dass nicht nur die amerikanische Öffentlichkeit, sondern die gesamte Weltöffentlichkeit bereits vollkommen abgestumpft ist, was den Glauben an eine inneramerikanische Reformfähigkeit anbelangt.

Damit ist aber im Grunde alles infrage gestellt, was gerade der Nachkriegs-generation in den westlichen Ländern unablässig vermittelt wurde – nach dem Motto wir Europäer mögen verstockt sein, die Amerikaner aber sind dynamisch, modern und wandlungsfähig.

Daher ist der gesamte Rest der Welt, aber insbesondere auch wir Europäer, gut beraten, sich sehr viel mehr auf die eigenen Antriebsfedern zu konzentrieren.

Dies gilt umso mehr, wenn man sich den Faktor Donald Trump näher betrachtet. Zwar sollte man einerseits bedenken, dass „The Donald“ sehr viel mehr ein Symptom der inneramerikanischen Schieflage als dessen Ursache ist. Andererseits gilt aber auch, dass der Präsident seine eigene Rolle ganz offensichtlich als die eines Brandbeschleunigers versteht. In einer Mischung eines greisen Ikarus und eines amerikanischen Nero zielt er immer darauf, die zentrifugalen Kräfte zu bestärken.

Dabei sollte sich gerade der im Privaten in vielerlei Hinsicht als sehr ängstlich und empfindlich bekannte Donald Trump Sorgen über den aktuellen Vorfall des Hinterhaltes in Las Vegas machen — wenn schon nicht aus Sicht der nationalen Politik, dann eben aus persönlichen Motiven heraus.

Wunder wie ein Trump, der die Waffengesetze verschärft, können immer geschehen. Aber die vergangenen Jahrzehnte sind in dieser Hinsicht äußerst ernüchternd, was die USA anbelangt. Auch Barack Obama, der gebildete „Smoothie“, vermochte es nicht, die USA auf eine bessere innenpolitische Umlaufbahn zu bringen. Und vor allem sollte es in einer gereiften Demokratie und funktionierenden Gesellschaft keiner Wunder bedürfen, um als Kollektiv verantwortlich zu handeln.

So abstoßend Trump oftmals agiert und redet (bzw. tweetet), und so grotesk die dabei zum Vorschein kommenden Widersprüche, ja Rohheiten sein mögen, kann man eine Tatsache nicht von der Hand weisen. Trump ist in dieser Hinsicht durchaus ein echtes Repräsentant seines Landes. Die Vox populi regiert im Weißen Haus.

Insofern kann sich Trump – trotz des Bodensatzcharakters seiner politischen Eingebungen – durchaus zugutehalten, dass er die Emotionen nicht weiter, wie während der Obama-Präsidentschaft, säuberlich unter den Teppich kehrt, sondern ihnen Ausdruck verleiht. In gewisser Weise ist das eine Form der Demokratisierung politischen Handelns. Dass sich dabei ausgerechnet ein US-Milliardär zum Sprachrohr der amerikanischen „Untertanen“ Heinrich Mannscher Prägung macht, gehört zu den Absurditäten des heutigen Amerika.

Aber es bleibt ja keineswegs nur bei der Rhetorik – und Trump reflektiert ja sehr viel mehr als nur seine eigene Unausgegorenheit. Die eigentliche Tragödie des Westens besteht darin, endlich anzuerkennen, dass die USA in ihrer aktuellen politischen Verfassung immer stärker zum Synonym von Unmenschlichkeit werden.

So unangenehm einem die These aufstößt, wie will man sonst verstehen, dass ein halbes Jahrhundert nach den angeblich so fundamentalen Bürgerrechtsreformen schwarze Bürger von der Polizei heutzutage serienweise wie Freiwild abgeschossen werden? Und ohne dass bisher so gut wie ein einziger Polizist dafür strafrechtlich gebührend belangt worden ist?

Und wie können wir – Silicon Valley hin oder her – ein Land als zivilisatorische Vormacht ansehen, dessen dominante Mehrheitspartei regelrecht einen Volkssport daraus macht, den ärmeren Amerikanern mit allen denkbaren und undenkbaren Mitteln den Zugang zur Krankenversicherung zu verwehren?

Die einzige „gute“ Nachricht in dieser Hinsicht ist, dass diese Form der Diskriminierung nicht länger allein den Schwarzen aufgebürdet wird, sondern auch dem weißen Proletariat. (Dieser Begriff ist bewusst gewählt; anhand mangelnder sozialer Absicherung, fehlenden Urlaubsansprüchen und dergleichen wäre jedes andere Wort Schönfärberei).

Wer angesichts solcher Perversionen des politischen Systems weiterhin dem Individualismus amerikanischen Stils das Wort reden will, der muss auch ver-stehen, dass dies in der Lebenspraxis nur einem sehr geringen Teil der Bevölkerung möglich ist, und zwar den Plutokraten, dem obersten Teil der US-Einkommenspyramide. Die anderen werden von Glitzer und Gloria des neuen „Gilded Age“ brutal ausgeschlossen.

Die Formel vom „winner takes all“ erklärt, warum der amerikanische Traum immer stärker zum Alptraum verkommt. Der Konsum der Opioide spricht da eine glasklare Sprache. Für diese gilt übrigens bezeichnenderweise das gleiche wie bei Schusswaffen: bloß keine Interventionen seitens der Regierung, die die Problematik dank des probaten Mittels sachgerechter Regulierung wenigstens in geordnete Bahnen lenken könnte.

Weil ich bis vor einem Jahr dreißig Jahre in der amerikanischen Hauptstadt gelebt habe und mich in deren politischen Strukturen gut auskenne, wurde ich neulich von einem prominentem deutschen Transatlantiker gefragt, ob ich mich angesichts des Trump-Faktors nicht für die Rettung der transatlantischen Beziehungen einsetzen wolle. Meine Antwort frappierte meinen Gesprächspartner: Das sei ein Ding der Unmöglichkeit. Denn um das zu bewerkstelligen, müsste die amerikanische Gesellschaft rettbar sein.

Davon kann aber auf absehbare Zeit keine Rede sein. Die USA von heute sind ja nicht nur ein Paralleluniversum von nebeneinander her lebenden Menschen. Sie sind auch ein führendes Industrieland, in dem sich die knappe Hälfte jeglicher Form des westlichen, rationalen Denkens versperrt. Hier kommen ominöse Vorzeichen der Fortschrittsverweigerung zum Vorschein, wie sie sich in Deutschland in der Spätphase der Weimarer Republik manifestierten.

So radikal die These ist, so zutreffend ist sie zugleich: In Sachen der rigorosen Ablehnung von allseits akzeptierten Erfahrungstatbeständen zivilisierter Gesellschaften – etwa in Sachen Anerkennung von Evolution und Klimawandel – hat die republikanisch geprägte Hälfte der amerikanischen Bevölkerung mehr mit Saudi-Arabien, der Türkei und anderen fundamentalistischen muslimischen Ländern gemein als mit uns EU-Europäern.

Das ist die eigentliche Botschaft, die wir – aktuellen Bildern zum Trotz – aus den USA vernehmen sollten.

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