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In der deutschen Flüchtlingsdebatte fehlt es an Realismus

Bundespolizei

Erschienen in Die Welt (PDF).

Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, so hat es zumindest den Anschein, sind darauf aus, nach dem Fall Anis Amri nach Möglichkeit wieder zur normalen Tagesordnung überzugehen. Das ist aus der Warte des puren Eigeninteresses der Parteien nachvollziehbar. Zugleich ist es aber nicht nur rechtsstaatlich bedenklich und politisch sehr riskant, sondern – aus Warte der Opfer – auch beschämend.

Die CDU hat wenig Interesse an Aufklärungsarbeit, weil sie auf einen Wahlkampf setzt, bei dem vorgegeben wird, das Flüchtlingsthema sei mittlerweile – via Türkei-Deal – gelöst. Auch hätte die CDU einige Fragen zu beantworten. So hat der ehemalige Berliner Innensenator Henkel, ein vermeintlich „scharfer Hund“, im Fall Amri anscheinend auf den Akten gesessen.

Die SPD wiederum ist peinlich berührt, dass in ihrem wichtigsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, bei Amri administrativ so gut wie alles schiefgelaufen ist, was in einem bösartig gemachten Film nur schieflaufen kann – außer dass die SPD hier selbst Regie geführt hat. Immerhin wird es in NRW einen Untersuchungsausschuss dazu geben.

Allparteiliches Wegdrücken

Wie steht es um die Grünen und erst recht die Linke? Normalerweise sind die beiden Oppositionsparteien im Bundestag durchaus auf die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen erpicht. Aktuell ziehen sie es aber vor, gut Ding Weile haben zu lassen.

Denn wenn sie in dieser Frage ihrer Oppositionsrolle in gebührender Weise nachgehen würden, kämen die mit dem Flüchtlingsstrom verbundenen Sicherheitsfragen wieder aufs Tapet. Das aber wollen beide nicht, ist doch ein liberaler Umgang mit dem Flüchtlingsthema ein konstitutives Element ihrer jeweiligen Identität als Partei.

Aufgrund dieses Parteienkonsenses wird das Vertrauen in den Rechtsstaat leichtfertig aufs Spiel gesetzt, in jedem Fall aber das in die öffentliche Sicherheit. Man male sich nur aus, was passiert, falls es vor dem Hintergrund dieses allparteilichen Wegdrückens zu einem neuen Terroranschlag aus demselben Täterkreis kommt. Aktuell scheint es so, als ob allein das Prinzip Hoffnung gilt. Das Behördenwirrwarr ist jedenfalls nicht entflochten.

Kurzsichtige Betrachtungsweise

Der eigentliche Skandal liegt aber jenseits all dieses kurzsichtigen parteitaktischen Kalküls und administrativen Wirrwarrs. Denn nach wie vor fehlt es sowohl an einem adäquat dynamischen als auch ehrlichen Umgang mit dem Flüchtlingsthema, und zwar vor allem, was die Fähigkeiten Deutschlands anbelangt.

Die einen – links von der Mitte – versuchen, die Integrationsproblematik mit einem kruden Keynesianismus schönzureden. Natürlich ist das Hartz-IV-Geld, das an die Neuankömmlinge ausgezahlt wird, auf eine gewisse Weise „konjunkturfördernd“, obwohl das offensichtlich eine extrem kurzsichtige Betrachtungsweise ist.

Die anderen – in der CDU – sind nach wie vor bestrebt, in jedem Fall ein Einwanderungsgesetz zu verhindern. Sie tun dies, obwohl gerade ein solches Gesetz vonnöten ist, um die Produktivität der deutschen Volkswirtschaft auch in Zukunft zu gewährleisten – und nicht zuletzt auch, um künftig die finanziellen Mittel zu haben, um die enormen Kosten allein des bisherigen Flüchtlingsstroms zu bewältigen.

Es mangelt an Bildung und Sprachkenntnissen

Die Aufnahme der Flüchtlinge ist ohne Frage ein bewundernswerter humanitärer Akt. Doch diesen, wie es immer wieder geschieht, der Öffentlichkeit als eine immanente Produktivitätssteigerung zu verkaufen ist nicht nur blauäugig, sondern unredlich.

Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen solche, die in der deutschen Volkswirtschaft leicht einen Job übernehmen können. Für einen Großteil gilt dies aufgrund ihres mangelnden Bildungsstandes und nicht vorhandener Sprachfähigkeiten aber nicht. Deshalb heißt es jetzt, nüchtern, realistisch und handlungsorientiert zu sein. Aber genau daran mangelt es.

Die neuen Zahlen des Bundesfinanzministeriums für die Haushaltsplanung weisen aus, dass im Jahr 2017 allein für asylbedingte Leistungen Bundesausgaben von 21,3 Milliarden Euro anfallen. Das entspricht stolzen 6,5 Prozent des Gesamthaushaltes. Dass diese Summe alles andere als ein Pappenstiel ist, sieht man an folgenden Vergleichszahlen.

Ein langer Integrationsprozess

Diese 21,3 Milliarden Euro sind 20 Prozent höher als der gesamte Jahresetat des Bundesbildungs- und Forschungsministeriums; sie sind fast das Doppelte der gesamten Verkehrsinvestitionen und entsprechen knapp 60 Prozent des Verteidigungshaushaltes. Es ist in jedem Fall Geld, das anderswo nicht zur Verfügung stehen wird.

Sechzehn Monate nach dem Anschwellen der Flüchtlingswelle vom Herbst 2015 ist der größte Skandal aber ein ganz anderer. Dies gilt trotz der Tatsache, dass viele Kommunen bei der anfänglichen Integration Bewundernswertes geleistet haben. Das ist ja nur der Auftakt eines am Ende wohl 15- bis 20-jährigen Integrationsprozesses.

Um den erfolgreich zu bewältigen, geht es nicht um Abschottung, sondern um eine nachhaltige Verhaltenskorrektur auf deutscher Seite. Just an dieser mangelt es aber. So wird weiterhin gerne davon geredet, die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt maximal zu beschleunigen, die gute Erfolgsaussichten bei der Anerkennung ihres Status haben. Nur wird eben bisher nicht entsprechend gehandelt.

Am Ende gibt es in der Hauptsache einen Allparteienkonsens, der aktuell darauf hinausläuft, dass vornehmlich mehr öffentliche Jobs geschaffen werden müssen, um die anfallenden Aufgaben administrativ zu bewältigen. Das mag die selbstgefällige Betriebslogik eines auf sich selbst bedachten kameralistischen Apparats sein. Mit effektiver Integration in die Gesellschaft hat das allerdings wenig zu tun.

Wie wenig zielorientiert, realistisch und – ja – proper kameralistisch gedacht wird, zeigt sich etwa an den sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Allein das Land Nordrhein-Westfalen, notorisch knapp bei Kasse, hat 13.600 solche Flüchtlinge und gibt hierfür aktuell 632 Millionen Euro pro Jahr aus – bei Monatskosten von 4500 Euro pro Kind.

Trotz dieses enormen Finanzaufwandes sind die Integrationschancen am Ende eher gering. Ein Aufwachsen im angestammten Kulturraum ist aus diversen Gründen wahrscheinlich der einzig gangbare Weg.

Schlafende Hunde schlafen lassen

In dieser Zahl steckt Sprengpotenzial. Denn dies ist das Mehrfache von dem, was monatlich für eine mehrköpfige Flüchtlingsfamilie aufgewendet wird. Und das ist etwas, das sich auch die reiche deutsche Gesellschaft, die im Moment einen konjunkturellen Zenit durchlebt, nicht leisten kann.

Gerade in der Flüchtlingsfrage müsste, um den innergesellschaftlichen Konsens auf Dauer hinreichend aufrechtzuerhalten, auch mit spitzem Bleistift gerechnet werden. Aber das will niemand so recht. Im Prinzip sind sich alle etablierten Parteien einig, schlafende Hunde schlafen zu lassen.

Dass sie damit implizit der AfD, auch wenn diese sich glücklicherweise in einem Selbstzerstörungsmanöver nach dem andern befindet, Vorschub leistet, ist kaum zu übersehen.

Alte Verwaltungszöpfe abschneiden

Anderthalb Jahre nach der großen Flüchtlingswelle herrscht jedenfalls der Eindruck vor, als würde der deutsche Staatsapparat wieder zur Tagesordnung übergehen. Die hehren Hoffnungen von Reformern, dass die Ereignisse vom Herbst 2015 Anlass genug seien, viele alte Verwaltungszöpfe abzuschneiden, haben sich jedenfalls bisher nicht hinreichend erfüllt. Allein schon der bisherige Flüchtlingsstrom wird sich jedenfalls ohne ein deutlich dynamisiertes administratives Vorgehen nicht bewältigen lassen.

Wer die gewaltigen Aufgaben erfolgreich bewältigen will, der muss realistisch für zweierlei sein. Erstens muss sehr viel mehr Spielraum geschaffen werden für solche Neuankömmlinge, die echte Integrationschancen haben. Umgekehrt bedarf es einer wesentlich engeren Auslegung bei denjenigen, die wenig Integrationschancen haben und in der Vergangenheit vornehmlich aufgrund einer immer laxeren Verwaltungspraxis Aufenthaltstitel bekamen.

Wir werden nicht die Hoffnungen aller Neuankömmlinge erfüllen können. Insbesondere müssen wir verstehen, dass eine unkritische, allgemein praktizierte Großzügigkeit der Integration derer im Wege steht, die es schaffen können. Wer mit diesem Vorhaben Erfolg haben will, muss auch ablehnende Entscheidungen treffen können und diese zügig umsetzen.

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