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Es geht nicht nur um Wirecard

Erschienen in Süddeutsche Zeitung (URL) | (PDF)

Die Probleme des Finanzplatzes Deutschland sind noch viel größer als der milliardenschwere Bilanzbetrugsskandal. Er spiegelt den wackeligen Zustand des gesamten deutschen Bankensektors wider.

Um echten Fortschritt zu erreichen, braucht es mehr als neue Gesetze und Verordnungen bzw. eine bessere Aufsicht: Es braucht eine viel höhere Akzeptanz echter Transparenz und auch des Finanzkapitalismus, der eben gerade nicht mit einem Kasino gleichzusetzen ist.

Oberflächlich betrachtet ist der Zusammenbruch von Wirecard ein Betrugsskandal, der durch eine klientelistisch agierende Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und betriebsblind agierende deutsche Aufsichtsbehörden ermöglicht wurde. Diese Feststellung ist schockierend genug in einem Land, das ansonsten auf seine hoch qualifizierte und personell üppig ausgestattete Bürokratie so stolz ist.

Im Kern geht es bei der Wirecard-Affäre jedoch um viel mehr. Denn sie spiegelt den wackeligen Zustand des gesamten deutschen Bankensektors wider, der seinerseits durch eine hierzulande typische politische Klüngelkultur und eine ungenügend scharf ausgeprägte Finanzkultur gefördert wird.

Der deutsche Bankensektor wankt, egal wo man hinschaut. Die Deutsche Bank ist ein purer Schatten ihres früheren Selbst. Der Commerzbank geht es noch schlechter. Sparkassen können Nullzinsen nicht überleben. Die einst grotesk überdehnten Landesbanken befinden sich noch immer in der Konsolidierungsphase. Auch die Genossenschaftsbanken sind nicht in guter Verfassung. Für ein Land, das die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, ist all dies beunruhigend genug. Noch schwerer wiegt, dass die größte Triebfeder hinter dem Wirecard-Zusammenbruch kollektive Blindheit und Gruppendenken sind.

Der deutsche Finanzsektor ist overbanked, es gibt zu viele Banken auf zu engem Raum. Das ist seit vielen Jahren bekannt, aber getan wird so gut wie nichts. Das hat einen einfachen politischen Grund. Viele der Einzelsektoren unserer Bankenindustrie sind auf die eine oder andere Art und Weise politisch liiert. Die Parteien einigen sich darauf, die längst überfällige Flurbereinigung auszusetzen. Außerdem bieten viele Banken des öffentlichen Sektors hoch dotierte Vorstandsjobs und vor allem bequeme Aufsichtsratsposten für Politiker nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt.

So bleibt alles beim Alten: Der Markt wird von Banken des öffentlichen Sektors dominiert, die unter weniger Gewinndruck stehen als die Geschäftsbanken. Das wiederum drückt das Ertragspotenzial für alle kreditvergebenden Institutionen. Niedrigere Margen im Zinsgeschäft und höhere Risikokosten bei Privatkunden und auf der unteren Ebene des Firmenkundengeschäfts sind die unweigerliche Folge.

Zudem hat Deutschland einen höheren Anteil an Strukturvertrieben und freien Finanzmaklern, die einen Großteil der Margen für sich verbuchen, die insbesondere im lukrativen Marktsegment der finanziell bessergestellten Haushalte unterhalb der Ebene von Hedgefonds-Kunden zu erlangen sind. Viele andere Länder haben solche Strukturen nicht. In Deutschland gibt es zudem vergleichsweise wenig Provisionsgeschäfte, da wir weniger als andere Nationen in Aktien investieren.

Deutschland braucht einen tief greifenden kulturellen Wandel

Diese grundlegenden strukturellen Schwächen unseres Banken- und Finanzsektors erfordern eigentlich große Aufmerksamkeit. Stattdessen begnügte sich die Politik mit der öffentliche Stellen schaffenden eifrigen Expansion des Aufsichtswesens, welches zugleich für alle Beteiligten immer undurchsichtiger wird. Außerdem wurde Wirecard als eine Art Zauberstab angesehen, mit dessen Hilfe („ein zweites SAP“) all die anderen bekannten Probleme weggewedelt werden könnten.

Deutschland braucht einen tief greifenden kulturellen Wandel. Er sollte auf drei Prinzipien beruhen. Das erste ist Transparenz. Diese schonungslos zu akzeptieren, ist notwendig, um die Bereitschaft zur Offenheit gegenüber neuen Ideen, Anreizmodellen und Geschäftspraktiken zu fördern. Und zwar gerade dann, wenn sie disruptiv die komfortabelsten Gewohnheiten und in Deutschland gängigsten Marktpraktiken in Frage stellen. Die Umsetzung dieses Prinzips könnte eine Wiederholung des katastrophalen Fehlers verhindern, den deutsche Behörden und die Öffentlichkeit im Wirecard-Skandal begangen haben. Man erging sich vorrangig in Vermutungen über konspirative Motive der Financial Times und des Finanzplatzes London. Nicht erst im Nachhinein ist vollkommen klar, dass es niemals der richtige Weg ist, neue Informationen kategorisch von der Hand zu weisen, statt sie rigoros zu prüfen.

Das zweite Prinzip ist eine deutlich stärkere Akzeptanz des Finanzkapitalismus. So häretisch sich dies nicht nur für die reflexiv antikapitalistische Linke anhören mag, geht es hierbei darum, eine fundamentale Einsicht zu akzeptieren: Selbst eine so starke Volkswirtschaft wie die deutsche wird nicht dadurch gestärkt, dass man sich vorrangig auf den Schutz mächtiger etablierter Unternehmen kapriziert. Vielmehr geht es im Interesse des Schutzes der Volkswirtschaft – und gerade des langfristigen Schutzes der politisch immer virulenten Arbeitsplätze – hauptsächlich darum, sicherzustellen, dass gerade die wichtigen und faktisch mächtigen Unternehmen immer zur Rechenschaft gezogen werden können. Geschieht dies nicht, riskieren sie ihre Marktführerschaft (siehe auch deutsche Automobilindustrie).

Drittens geht es um ein viel besseres Verständnis des Aufsichtswesens. Die Regulierungsbehörden sollten sich im Kern auf die Korrektur von Marktversagen konzentrieren – und nicht, wie im Fall Wirecard offen zutage lag, um den Schutz nationaler Reputationen oder Champions. Wer letzteres vorzieht, ermöglicht große Skandale und schwächt die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrien.

Im Gegensatz zum derzeitigen deutschen Rollenverständnis ist die aktive, ja aggressive Ausübung der Aufsichtsfunktion für die nachhaltige wirtschaftliche Stärke eines Landes von entscheidender Bedeutung. Wenn allein dieses Prinzip wegen des durch den Wirecard-Skandal eingetretenen Finanz- und Reputationsschadens in Zukunft fest verankert wäre, würde dies ein großer Fortschritt für Deutschland sein.

Es ist also ganz klar: Die von Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz propagierten Reformen reichen bei Weitem nicht aus. Die Vorschläge wie eine regelmäßige Rotation von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, eine klarere Trennung des lukrativen Beratungsgeschäfts von dem der Unternehmensprüfung, der Ausbau des Aufsichtspersonals und eine Verschärfung von Gesetzen und Vorschriften sind durchaus sinnvoll, aber alles auch nur formale Schritte. Worum es im Kern stattdessen gehen muss, ist ein echter Kulturwandel. Und bei dem stehen wir leider noch am Anfang. Das beweist nicht nur das eklatante, bestenfalls legalistische Fehlverhalten der Finanzaufsicht Bafin, sondern auch die Zahnlosigkeit der Geldwäscheaufsicht FIU. Freilich hat auch die bayerische Aufsicht dabei alles andere als eine rühmliche Rolle gespielt.

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