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Die Lotsin geht von Bord

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Welches wirtschaftspolitische Erbe hinterlässt Angela Merkel nach 16 Amtsjahren – einer Zeitspanne, die länger ist als die gesamte Weimarer Republik?

· Wann immer es galt, politisch umstrittene Strukturreformen durchzusetzen, verließ Merkel der Mut.

· Sie war gut fürs Gemüt, aber schlecht für die Sicherung einer wirtschaftlich erfolgreichen Zukunft Deutschlands.

Die CDU hat zum Auftakt des „Superwahlkampfjahres“ 2021 gerade eine herbe, doppelte Nieder-lage eingesteckt. Die Union steht dementsprechend vor einer schweren Personal¬entschei¬dung über die Kanzlerkandidatur. Eine Kernfrage in diesem Zusammenhang ist, inwieweit der Wählerunmut, der landläufigen Erzählung zum Trotz, eng mit dem wenig inspirierenden wirt-schaftspolitischen Vermächtnis von Angela Merkel verbunden ist.

Die erste Kanzlerin der deutschen Geschichte wird unser Land insgesamt fast 16 Jahre lang regiert haben. Das ist eine Zeitspanne kürzer als Bismarcks Kanzlerschaft, aber länger als die gesamte Dauer der Weimarer Republik. Aber auch wenn Merkels Amtsperiode wirtschafts¬politisch voller Ankündigungen war, wurden die mit Blick auf die Zukunftssicherung entschei¬denden Ver¬sprechen nicht eingehalten.

Wie die Pandemie überdeutlich gemacht hat, ist kein Versäumnis eklatanter als das, Deutsch¬land in die Ära der Digitalisierung zu führen, sei es in der öffentlichen Infrastruktur, der öffent¬lichen Verwaltung oder im gesamten Bildungssektor. Aber damit nicht genug. Merkel hinterlässt auch eine verpatzte Energiewende. Und trotz voller Kassen wenig mehr als Gerede über die allfällige Modernisie¬rung der physischen Infrastruktur, eine marode Bundeswehr, eine systema¬tische Abschwächung der Schröder-Reformen sowie eine eilige Öffnung der Grenzen, ohne dass diese auf einem effektiven Konzept für die Migra¬tions¬- und Integrationspolitik auf¬bauen würde. Das rituelle Beschwören des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist kein Substitut für ziel¬führen¬de Wirtschafts- und Strukturpolitik.

In der Regel wurde der mangelnde Fortschritt bei all diesen Reformen immer auf dieselbe Weise erklärt: Ländersache! Übersetzung: Meine Hände sind gebunden. Das von einer macht¬politisch in eigenen Dingen sehr versierten Frau zu vernehmen, die zudem immer wieder Große Koalitio¬nen anführte, ist nicht sehr überzeugend.

Auch Merkels Leistung in Umweltfragen ist eine echte Enttäuschung. Das gilt nicht nur ob ihrer früheren Tätigkeit als Bundesumweltministerin (1994-1998) und ihrer natur¬wissenschaftlichen Ausbildung. Angela Merkel nährte ja gerne auch die Erwartung, dass sie als System¬denkerin die „dicken Bretter“ der Politik durchbohren könnte.

Seit dem Tag, an dem die Bundeskanzlerin im August 2007 mit Sigmar Gabriel, ihrem Nachfolger als Umweltminister, zum Fotoshooting nach Grönland reiste, ist in dieser zentralen Frage wenig passiert. Mit einer Ausnahme: Deutschland verlor während der Merkelschen Kanzlerschaft seine Markt¬führer¬schaft in der Umwelttechnologie. Alle bedeutenden Errungenschaften in diesem Metier wurden unter der rot-grünen Koalition initiiert, die vor Merkels Machtübernahme im Jahr 2005 am Ruder war.

Auch die immer wieder aufgestellte Behauptung, dass Merkel eine brillante Krisenmanagerin sei und sich vor allem in der Europapolitik große Verdienste erworben hat, läuft bei genauer Be¬trach-tung eher ins Leere. Faktisch haben sich gerade Angela Merkel und die CDU mit ihrer ge¬mein-samen Vorliebe für das Vertreten von Status Quo-Interessen oftmals eher anti-europäisch verhalten. Das trifft für die Landwirtschaftspolitik ebenso zu wie für die Mobilitätspolitik. Angela Merkels Agieren in Brüssel als Patin der deutschen Autokonzerne machte den Dieselbetrug zu-mindest mittelbar leichter. Vor allem aber verlor die gesamte Branche so wertvolle Zeit – und höchstwahrscheinlich auch ihre weltweite Technologieführerschaft.

Was erklärt die schwache Reformbilanz der Merkel-Ära? Zum einen ist da ihre große Zögerlich¬keit und Schwäche bei der Durchsetzung von Reformen. Wann immer es galt, politisch sensible Strukturreformen durchzusetzen, verließ Merkel der Mut.

Ein weiterer Hauptgrund für Merkels mangelhafte Reformbilanz ist, dass die meisten Bundes-minister, die sie aus den Reihen der CDU/CSU in das Bundeskabinett berief, schwach waren. Wer den Adlatus Peter Altmaier, die Heißsporne Jens Spahn und Andreas Scheuer sowie die Wissenschaftsministerin Anja Karliczek beruft, muss sich ein schwaches Ego vorhalten lassen. Auch deshalb fällt die Regierungsleistung Merkels im Vergleich ab. Es passt zu diesem Muster, dass die meisten kompetenten Minister in den Merkel-Jahren Sozialdemokraten waren.

Natürlich werden sich diejenigen, die fleißig an der Merkel-Legende arbeiten, von diesem ernüchternden Befund unbeeindruckt geben. Sie werden aller Voraussicht nach geschichts-klitternd argumentieren, dass in Deutschland bis zum Ausbruch der Pandemie wirt¬schaftlich alles gut gelaufen ist. Ergo: Macht bloß nicht Angela Merkel für die wirtschaft¬lichen Probleme verantwortlich, die sich nach ihrem Ausscheiden aus dem Kanzleramt voll entfalteten. Nur wenige Menschen, die wirklich etwas von Wirtschafts¬reformen verstehen, dürften diese Ansicht teilen.

Keine Frage: Natürlich handelt es sich hier – unter der Führung Angela Merkels – auch um ein kollektives Versagen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Versuch, die (export-)wirtschaft¬lich goldenen Jahre der Amtsführung Angela Merkels zuzurechnen, unlauter ist. Da werden Kausalität und Koinzidenz verwechselt.

Der deutsche Handelsbilanzüberschuss war – aller parteipolitischen Mytho¬logi¬sierung zum Trotz – nicht das Resultat einer gelungenen Wirtschaftspolitik. Er war vor allem das Resul¬tat eines schwachen Euro. Bezeichnender¬weise setzte der Trend zu hohen Exportüberschüssen 2001 ein, also deutlich vor Merkels Kanzlerschaft.

Eine prekäre Folge des für Deutschland unterbewerteten Euro waren und sind dabei die gerin¬gen Real¬lohnsteigerungen. Diese gingen obendrein, wohl um der „schwarzen Null“ im Bundes¬haushalt zu huldigen, trotz extrem niedriger Zinsen mit schwachen real¬wirtschaftlichen Investi¬tionen einher.

Aber all diese wirtschaftspolitischen Fehlkalkulationen, inklusive Merkels übertriebenes An¬dienen an die Adresse Pekings, werden das Ansehen der Kanzlerin im deutschen Wahlvolk zunächst nur in diffuser Weise beeinträchtigen.

Denn wer Merkel dafür kritisiert, dass sie zu vorsichtig agiert hat, muss auch sehen, dass sie mit ihrer Zaghaftigkeit die Gefühlslage der Nation perfekt widergespiegelt hat. Die Tatsache, dass sie als „Anästhesistin der Nation“ – d.h. sie betäubt uns, aber wir wollen von ihr auch betäubt werden – fungiert, erklärt die fast nabelschnur¬artige Verbindung zwischen so vielen Deutschen und Frau Merkel.

Zusammenfassend war Angela Merkel bestenfalls eine Verwalterin und trotz aller Dringlichkeit keine Reformerin. Sie war gut fürs Gemüt, aber schlecht für die Sicherung einer wirtschaftlich erfolg¬reichen Zukunft unserer Nation. Dafür fehlte ihr der nötige Mut.

Eines ist sicher: Nach 16 Jahren Merkel braucht die deutsche Politik Führungskräfte an der Spitze, die ein klares Gespür für die strategischen Entscheidungen haben, die unmittelbar nach den Bundestagswahlen im September getroffen werden müssen.

Und noch eines zeichnet sich ab: Merkels durchgehendes, machtpolitisch geprägtes Manöver, auf Grundlage von entsprechenden Meinungsumfragen bereitwillig Positionen der Grünen und der SPD zu übernehmen, hat die CDU zunehmend inhaltlich ausgehöhlt und ihren Markenkern austauschbar gemacht. Sich von dieser Aus¬höh¬lung zu erholen, wird Jahre dauern.

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