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Die hyper-ambitionierte Ambitionslosigkeit der Deutschen

Erschienen in Handelsblatt (URL) (PDF)

Je stärker die innerdeutsche Debatte vom Weltverbesserungsgeist beseelt ist, desto mehr kommt unsere nationale Neigung zu Selbstgerechtigkeit und hyper-ambitionierter Ambitionslosigkeit zum Vorschein.

* Wir konstruieren uns à la Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ die gesamte Welt so, dass wir – und nur wir – sie dann anschließend retten können.

* Unsere europäischen Verbündeten fragen sich, welches Sonderstatut es den Deutschen erlaubt, den anderen Bündnis¬partnern bei allen riskanten Aufgaben der kollektiven Selbstverteidigung die sprichwörtliche Arschkarte zuzuweisen.

* Unsere Migrationspolitik ist weiterhin von einer merkwürdigen Mischung von Sterilität und Etatismus geprägt. Dabei bieten uns die positiven Migrationserfahrungen mit Neuankömmlingen aus bestimmten Ländern einen wichtigen Anhaltspunkt.

* Der vielleicht wichtigste deutsche Beitrag zur weltweiten Reduktion von CO2-Emissionen könnte im Erfinden von optimierten Baustoffen liegen.

Von der Klimapolitik über die Migrationspolitik bis hin zur Sicherheitspolitik gilt eine sehr beunruhigende Feststellung: Je stärker die innerdeutsche Debatte vom Weltverbesserungsgeist beseelt ist, desto deutlicher kommt unsere nationale Neigung zu Selbstgerechtigkeit und – paradoxerweise – zu hyper-ambitionierter Ambitionslosigkeit zum Vorschein. Mit Pragmatismus, Realitätssinn und nüchterner Bescheidenheit – einst bundes-republikanische Kardinaltugenden – hat das nichts mehr zu tun.

Die neue deutsche hyper-ambitionierte Ambitionslosigkeit lässt sich an den drei eingangs zitierten Themenbereichen – alles wesentliche Fragen der Gegenwart – schlüssig belegen. Für alle drei Bereiche gilt das folgende Paradox: Je mehr Selbstgerechtigkeit und Weltverbesserungsgeist wir als Nation in der Klimapolitik, Migrationspolitik und Sicherheitspolitik an den Tag legen, desto mehr verzwergen wir uns in der Weltpolitik.

Systematische deutsche Selbstverzwergung

Erstes Beispiel: Wir beschäftigen uns einerseits ziemlich obsessiv mit Themen wie Bootsflüchtlingen im Mittelmeer, sind aber andererseits als Gesellschaft im Vergleich zu anderen Nationen bei der effektiven Integration von Migranten bestenfalls Mittelmaß. Bei uns reüssieren meist nur die Migranten, die ohnehin stark selbstmotiviert sind und daher keine weitere staatliche bzw. gesellschaftliche Unterstützung brauchen.

Zweites Beispiel Klimawandel: Auch hier gilt die kuriose Maxime, ebenso grandios wie kleinteilig zu denken. Wir müssen uns, so heisst es, massiv einschränken, damit die Welt nicht untergeht. Und weiter: Wer, wenn nicht wir, soll denn sonst mit gutem Beispiel vorangehen? So lautet unsere feste Überzeugung, obwohl der Beleg, dass andere Nationen uns folgen wollen, nicht erbracht ist. Wer wollte schon ein Land, das bei der Bewältigung des Klimawandels im unteren Mittelfeld der EU rangiert, nachahmen wollen?

Davon ungetrübt sprechen wir u.a. munter davon, dass wir die Deutsche Bahn nur entschlossen ausbauen müssten, damit wir den innerdeutschen Flugverkehr reduzieren können. Na klar. Aber wer verhohnepiepelt hier eigentlich wen? Wer in den letzten Monaten und Jahren Bahn gefahren ist, weiß, dass sie nahe an der Grenze zum Kollaps operiert.

Im Traumland Deutschland lassen sich all diese Missstände anscheinend wie mit einem Zauberstab beseitigen. Das war schon in der Romantik so, als die kleinteilig organisierten deutschen Lande ebenfalls tief im Morast steckten.

Deutschland konstruiert sich die Welt

Wir verstehen den Titel von Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ offensichtlich nicht länger als erkenntnistheoretischen philosophischen Text, sondern als politische Konzeption unserer Maßlosigkeit. Wir konstruieren uns die gesamte Welt so, dass wir – und nur wir – sie dann anschließend retten können.

Mit einem solchen Samariterkomplex ist schwer vereinbar, dass wir uns immer dann rigoros verweigern, sobald es um praktische Entscheidungen geht. Das 2%-Ziel der NATO? Oder gar eine Sicherheitszone in Nordsyrien einrichten, um das Land zu stabilisieren? Aus SPD-Sicht wird ersteres als Aufstockung der „Kriegskasse“ diffamiert, während der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich zum zweiten Thema völlig irrlichternd bekundet: „erinnert mich an das wilhelminische Weltbild eines ‚Platzes an der Sonne‘.“

Unterdessen fragen sich unsere europäischen Verbündeten, welches Sonderstatut es den Deutschen eigentlich erlaubt, den anderen Bündnispartnern bei allen riskanten Aufgaben der kollektiven Selbstverteidigung die sprichwörtliche Arschkarte zuzuweisen. Die SPD glaubt offensichtlich, dass unsere Nation qua Nazi-Erbe von jeglichem riskanten Engagement entbunden ist. Solidarität, die ja auch im Verhältnis der Demokratien untereinander gilt, sieht anders aus.

Was tun?

Genug der Philippika, so notwendig diese auch ist. Was sollte man stattdessen tun? In der Klimapolitik etwa müsste sich Deutschland – zumal als Exportnation und als ein Land, dessen Wohlstand vom Erfindergeist seiner Ingenieure herrührt – dringend auf im Weltmaßstab nützliche, CO2-reduzierende Innovationen verlagern. Denn nur diese können gerade den am akutesten betroffenen Schwellenländern helfen, ihre Emissionen zu reduzieren.

Eine globale umweltpolitische Realität als Beispiel: Selbst wenn alle Gebäudeemissionen in Deutschland dauerhaft auf null gebracht würden, verbaut China in wenigen Monaten mit seinen in der Energie- und Umweltbilanz oftmals katastrophalen Neubauten mehr an Umweltschädigung als Deutschland einsparen könnte.

Praktisch gewendet bedeutet dies: Der vielleicht wichtigste deutsche Beitrag zur weltweiten Reduktion von CO2-Emissionen könnte im Erfinden von optimierten Baustoffen liegen.

Flüchtlingspolitik und Sozialstaat

Und unsere Flüchtlingspolitik? Sie ist weiterhin von einer merkwürdigen Mischung von Sterilität und Etatismus geprägt. So sehr sich viele Menschen bei uns abstrakt für die Seenotrettung engagieren, sind bei der anschließenden Integration dieser Menschen vor Ort relativ wenige dieser Aktivisten engagiert. Diese Aufgabe soll bitte der Sozialstaat übernehmen.

Da machen sich die Kanadier schon sehr viel ehrlicher: Sie etablierten eine besondere Flüchtlingsquote für solche Migranten, bei denen kanadische Bürger auch die finanzielle und soziale Fürsorge für die Neuankömmlinge übernahmen. Das ist gelebte – und nicht nur getwitterte – Solidarität.

In Deutschland hingegen genügt es einer engagierten Minderheit offenbar, stellvertretend für den Rest der Gesellschaft finanzielle Haftungserklärungen für die Gesamtheit und die Staatskasse (das klingt so schön abstrakt) zu übernehmen.

Besonders pikant ist es, wenn sich diese selben Menschen im nächsten Atemzug dann über die ansteigende Altersarmut in der deutschen Gesellschaft beklagen. Als ob das eine aus finanzieller Nachhaltigkeitsperspektive betrachtet nicht direkt mit dem anderen zusammenhängt. Denn je weniger produktiv (d.h. mindestens alphabetisiert und sprachfertig) die Neuankömmlinge sind (bzw. bleiben), desto schwerer wird es in einer alternden Gesellschaft, künftig die Rentenversicherungsansprüche aller hierzulande in Ruhestand gehenden Menschen sicherzustellen.

Diese Zusammenhänge mitzudenken ist kein Akt sozialer Kälte. Menschen, die zwar keinen Asylanspruch haben, aber dennoch oft mit einem dauerhaften Aufenthaltstitel auszustatten, ist nicht nur ein falsch verstandener Akt der Großzügigkeit. Solche Verwaltungsentscheidungen führen auf Dauer zu einer ernsthaften Zerrüttung des Zusammenhalts unserer Gesellschaft.

Auf diesen Hinweis wird gerne geantwortet, man dürfe diese Dinge nicht gegeneinander „ausspielen“. Diese Meinungsbekundung ändert nichts an der finanzpolitischen Tatsache eines tendenziell zunehmenden Ungleichgewichts.

Aber selbst wer bereit ist, dies anzuerkennen, präsentiert dann in der Regel schnell das Argument, das müsse eben über höhere Steuern gelöst werden. Wohl auch deshalb haben wir insbesondere unter den Jüngeren in unserer Gesellschaft eine zunehmende Diskussion über das Auswandern.

Pragmatismus fehlt in beiden Lagern

Um nicht missverstanden zu werden: Deutschland braucht unbedingt mehr Zuzug von Menschen aus dem Ausland. Das gilt auch Menschen jenseits der Grenzen Europas. Dabei bieten uns die positiven Migrationserfahrungen mit Neuankömmlingen aus bestimmten Ländern einen wichtigen Anhaltspunkt.

Statt uns an einem immer pervertierter angewandten Asylrecht entlang zu hangeln, sollten wir sehr viel offenmütiger und ehrlicher vorgehen. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, unter der großen Anzahl der hier lebenden faktischen Wirtschaftsmigranten diejenigen zum dauerhaften Aufenthalt einzuladen, die anhand von Faktoren wie der Dynamik des Spracherwerbs, beruflichem Engagement und Qualifikationen sowie der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit ihr Potential unter Beweis gestellt haben.

Sie geben so starken Anlass zu der Vermutung, dass ihre Familien hierzulande auf Dauer zu produktiven Mitbürgern zu werden. Diese praktische Logik will aber ausgerechnet bei den Unionsparteien kaum jemand verstehen. Unterdessen halten die Parteien links der Mitte hielten ein solches Verfahren für eine unzulässige „Selektion“.

Und statt uns bei Integrationsversagern vornehmlich nach unserer eigenen Schuld als „Mehrheitsgesellschaft“ zu fragen, sollten wir im Interesse der Sicherung des effektiven Zusammenhalts unserer Gesellschaft viel klarer die aktuellen Integrationsdefizite benennen und bekämpfen. Dazu müssen Migrationsgesellschaften – und die Bundesrepublik ist eine solche – den Mut haben, wenn sich nichts Düsteres aufstauen soll.

Solange das nicht geschieht, droht die ganze Migrationsdebatte zu einer Übung in Identitätspolitik zu verkommen. Das wiederum führt zu einer schleichenden Amerikanisierung – soll heißen: Radikalisierung – unseres gesellschaftlichen Diskurses. Und diese dient am Ende vornehmlich den politischen Extremen. Insbesondere die AfD wird es freuen.

Das ist umso bedauerlicher, weil jetzt schon klar ist, wer unter der vorherbaren Verfestigung der innenpolitischen Fronten in der Migrationspolitik am meisten leiden wird. Das sind all die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die durch ihr eigenes Schaffen zu einem sehr produktiven – und unverzichtbaren – Bestandteil unserer Gesellschaft geworden sind. Gerade ihnen sollte unsere Solidarität gelten.

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