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Die Anästhesistin: Das Genie der Angela Merkel

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Amin Akhtar/Vodafone Institut

Einerseits betäubt Angela Merkel uns kollektiv, andererseits – und das ist die wirklich problematische Nachricht – wollen wir auch von ihr betäubt werden.

Merkel weiß, dass wir Deutschen notorisch entscheidungsschwach und konfliktscheu sind. Gleichzeitig möchten wir uns umsorgt fühlen. Und so haben wir mit ihr einen Geschäftsbesorgungsvertrag abgeschlossen. À la: „Du tust so, als ob Du unsere Probleme löst – und wir tun so, als ob Du uns mit harter Hand regierst.“ Offiziell lautet der Kernsatz des Merkelismus freilich wie folgt: “Die Bürger erwarten zu Recht von uns, dass wir die Probleme lösen, die sie beschäftigen.“

Bei diesem gefühlsduseligen Spiel hat Angela Merkel enorm vom Erbe Gerhard Schröders, des Strukturreformers, profitiert. Er hat ihr den Spielraum verschafft, auf dessen Grundlage sie so prinzipienlos operieren konnte, wie es ihr liegt.

Nun werden viele geneigt sein, zu sagen: Warum Beschwerden gen Merkel richten? Uns Deutschen geht es doch, zumindest im Vergleich mit so gut wie allen anderen Nationen, (relativ) golden.

In der Tat hatte das Manager-Magazin in weiser Voraussicht bereits 2010 davon geschrieben, dass uns Deutschen nicht zuletzt wegen des Exportbooms eine „goldene Dekade“ ins Haus stünde. Wenn wir da bloß nicht die Rechnung ohne den Wirt machen.

Es ist bezeichnend, dass wir auf dem Weg in die vierte Amtszeit Merkels – immerhin ist sie eine Naturwissenschaftlerin – noch immer eher schablonenhaft von der Notwendigkeit reden, die „Innovation zu fördern.“

Statt das zurückliegende Jahrzehnt zu nutzen, um uns zukunftsfit zu machen, haben wir viele Zukunftschancen vertan. Zum Beispiel, indem wir als Nation im Automobilbereich mit dem Diesel so gut wie alles auf einzige Karte gesetzt haben, noch heute daran festhalten und die vergangenen Fehler im Stile der Donald Trumpschen Kollusion unter den Teppich zu kehren versuchen.

Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Trotz aller hochtrabenden Ankündigungen der Regierung, rechtzeitig zum Wahlkampf ein „schnelles Internet für alle“ geschaffen zu haben, hinken wir Nationen wie Südkorea arg hinterher.

Wer unser Internet als sehr schnell bezeichnet, sollte erröten. Das fatale Vermächtnis der Deutschen Telekom, das Festhalten am Kupferkabel auf der sog. letzten Meile zum Haus, ist weiterhin das geschwindigkeits- und damit modernitätsdrosselnde Nadelöhr der Nation. Was unter anderem erhebliche geschäftliche Konsequenzen für unseren doch sehr dezentral verteilten Mittelstand im Land hat.

Derweil konzentriert sich das amtliche Berlin unvermindert entschlossen auf die Lösung dieser Thematik. Soll heißen: Man streitet sich nach wie vor munter über die Frage, ob für den Themenkomplex Innovation ein eigenes Ministerium geschaffen werden solle. Ein solcher Vorschlag ist gewiss planstellenfördernd. Ob er aber wirklich etwas zur Lösung beiträgt, darf bezweifelt werden. Aber das ist ja egal, solange der Amtsschimmel sich munter austoben kann.

Darüber hinaus reden wir Deutsche zwar gerne von Industrie 4.0 und schmücken uns – ganz so, als ob wir Franzosen wären – damit, den Begriff erfunden zu haben. Und doch fehlt bei uns weiterhin an entscheidenden Weichenstellungen, um auf diese industrielle Zukunft wirklich vorbereitet zu sein.

So ist etwa die Dateninfrastruktur der Bundesrepublik zu langsam, um beim Zukunftsthema autonomes Fahren mithalten zu können. Auch kann man so der Landflucht nicht entgegensteuern, obwohl das wegen der angespannten Lage im Wohnungsmarkt in den Städten eigentlich dringend geboten wäre. Es sollte uns als Nation zu denken geben, dass hier die Chinesen unter ihrer KP-Führung smarter und vorausschauender handeln als wir.

Genaugenommen unternimmt Frau Merkel bei sehr vielen Sachthemen immer nur genau so viel, wie erforderlich ist, um den jeweiligen politischen Gegner (ob innerhalb der Partei, der Regierung oder Gesellschaft) zu paralysieren.

Trotz dieser kurzsichtigen, hauptsächlich eigeninteressierten Vorgehensweise hält der Pakt, den „la Merkel“ mit ihrem Volk abgeschlossen hat. Die Mutti gibt vor, sich um alles zu kümmern, redet aber vornehmlich immer nur um den heißen Brei. Von einer Kanzlerin, die so fest im Sattel sitzt und schon so solide im Amt ist, sollte man eigentlich sehr viel mehr erwarten als die Anästhesie – also das Betäuben des Volkes – zur Geschäftsgrundlage des Regierens zu machen.

Und natürlich wirft Frau Merkel aus Motivationszwecken heraus zwischendrin zu allerlei Themen immer ‚mal wieder ein ermunterndes „wir schaffen das!“ ein.

Doch sobald diese frohe Botschaft vernommen worden ist, lehnt sich der deutsche Michel selbstzufrieden ins Bett zurück und gibt sich dem Traum hin, dass die Dinge im Schlaf geregelt werden – natürlich ohne jemandem auf die Füße zu treten.

Bei dermaßen viel germanischer Kabuki-Show ist es kein Wunder, dass die Merkel-Jahre schon jetzt vor unseren Augen verschwimmen. Man fragt sich verwundert: Ja, was haben wir denn eigentlich geschafft?

Nach dem probaten Ansatz der Anästhesistin werden bis heute nur Spritzen gegeben, ohne das eigentliche Problem einer Lösung zuzuführen.

Merkel mag sich als das geniale, personifizierte Psychopharmakon der deutschen Nation sehen, dem es gelingt, alles ruhig zu stellen und dadurch ein imaginäres Zufriedenheitsgefühl bei allen zu hinterlassen.

Allerdings sollten wir die Verantwortung dafür nicht feige auf den Schultern der Kanzlerin abladen. Keine Frage: Sie hat uns benutzt, aber noch viel mehr haben wir sie benutzt. Das ist ja die Essenz des Beruhigungspillenpaktes.

Und während wir uns so von ihr ganz bewusst mit schönster Regelmäßigkeit Sand in die Augen streuen ließen, haben wir es besonders genossen, dass sie dies mit einem Gesicht tat, dass nicht nur Unschuld, sondern gerade auch Durchschnittlichkeit signalisiert.

Am Ende gilt für das selbstvernarrte und selbstzufriedene, merkelisierte Deutschland von heute dasselbe wie im Fondsgeschäft: „Past performance is no indication of future success.“

Der Rest Europas wird es uns danken, dass wir die aktuelle Dekade verschwendet haben. Allerdings wird es auch dort ein eher böses Erwachen geben.

Denn entgegen allen Geredes von der martialischen deutschen Produktivitätsdampfwalze, das man insbesondere bei unseren größeren europäischen Nachbarn vernimmt, haben wir uns ja nicht nur für eine relative Insel der Glückseligen gehalten, sondern nach innen und außen auch so agiert.

Und so sehr es etwa Engländer, Franzosen und Italiener erfreuen mag, dass sich die Deutschen unter Merkels Ägide für sie überraschend eher michelhaft ausgeruht haben, so werden sie doch über eines entsetzt sein: Wir Deutschen werden uns in Zukunft – mangels innerer Modernisierung – nicht als der dukatensprudelnde Zahlesel entpuppen, auf den so gut wie alle der EU27 jetzt setzen.

So entpuppt sich Merkels Form der Führung bei genauerer Betrachtung als eine Art Kader-Machiavellistin, bei der Anpassung, Verstellung und Vereinnahmung ohne nähere Bezugnahme auf die historische und politische Dimension im Vordergrund stehen.

Aber muss man auch feststellen, dass die SPD nach Schröder, dem pragmatischen Machtmenschen, für Merkel der ideale Gegner ist. Die SPD versteht sich letztlich nur darauf, zu versuchen, Frau Merkel in ihrer eigenen Konturenlosigkeit zu übertrumpfen. Das ist ein Rennen, dass die SPD verlieren muss.

Das Bestreben von Martin Schulz, es allen Parteigruppierungen von mehr Gerechtigkeit bis hin zu mehr Modernisierung irgendwie gleichzeitig recht zu machen, bedeutet, dass die SPD ebenso vermerkelt ist wie die Merkelsche CDU ihrerseits sozialdemokratisiert ist. In einer solchen Konstellation kann Merkel weiter ungehindert die partielle Kooptierung der Ideologie ihres Koalitionspartners betreiben.

Sie sucht sich einfach das heraus, was Sinn macht. Und wenn Merkel dann nein sagt, wo das unkonkrete Wohlfühlseinsstreben der SPD zu weit geht, praktiziert sie in den Augen der Mehrzahl der Wähler Erwachsenenaufsicht. Unter diesen Bedingungen wird Realpolitik à la Merkel zum Kinderspiel.

Bei genauer Betrachtung sind die Führungseliten der SPD und der Grünen von heute die eigentliche Inkarnation des unpolitischen deutschen Michels. Sie wünschen sich – wie im Schlaraffenladen – alles für alle und versuchen auch noch, sich dabei gegenseitig zu überbieten. Kein Wunder, dass die Kanzlerin ein leichtes Spiel mit ihnen hat. Deutschland wird damit aber keineswegs zukunftssicherer gemacht.

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