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Deutschland hat Trumps Amtszeit genutzt, um Urlaub von strategischem Denken zu nehmen

Erschienen in Handelsblatt (URL) | (PDF)

Die Bundesregierung hat die Anti-Trump-Karte als Rechtfertigung für ihr konstantes Wegducken genutzt. Damit dürfte es bald vorbei sein.

Die Neigung zu selbstgerechtem, prinzipienlosem Denken prägt seit geraumer Zeit die deutsche Außenpolitik. Das gilt vor allem für die Beziehungen zu Russland und China, wo das Kanzleramt und das Wirtschaftsministerium besonders eifrig herumeiern.

Überparteilich betrachtet treibt die neogermanische Empörungskultur bei Nord Stream 2 immer neue Blüten, während sich der GroKo-Partner SPD beim Thema Nato-Budget mentalen Verrenkungen hingibt. Bisher konnte man kritische Fragen zum deutschen Kurs bei all diesen Themen bequem mit dem Argument von der Hand weisen, man könne sich ja nicht dem Diktat eines Donald Trump unterwerfen.

Dabei sind unsere nationalen Entscheidungsträger allerdings einem kapitalen Irrtum aufgesessen. Sie haben die Trump-Jahre dazu missbraucht, einen kollektiven Urlaub von strategischem Denken zu nehmen. Reflexiv gegen alles zu sein, wofür Trump ist, mag manchem ja als „cool“ erschienen sein.

Nur zeigt eben auch eine stillstehende Uhr zweimal am Tag die richtige Uhrzeit an. Und so ist etwa Trumps Optieren für ein hartes Durchgreifen gegenüber China grundsätzlich richtig. Und auch Trumps Kurs in Sachen Nord Stream 2 wird von vielen europäischen Verbündeten Deutschlands sehr befürwortet.

Innerhalb Europas hält man wenig von einer deutschen „Diplomatie“, die – allen proeuropäischen Beteuerungen von Merkel und Altmaier zum Trotz – vor allem auf die normative Kraft des Faktischen setzt. Nach dem Motto: Die europäischen Regeln gelten für die anderen Mitgliedsländer, aber nicht wirklich für das mächtige Germanien.

Konstantes Wegducken

Gerade in Sachen Nord Stream 2 sollte es uns Deutschen als den vermeintlich „guten Europäern“ bewusst sein, dass so gut wie alle europäischen Regierungen sowie die EU-Kommission den deutschen Alleingang in Sachen Gazprom ablehnen. Sie tun das, weil sie ihn nicht als mit den Zielsetzungen der europäischen Energiepolitik vereinbar ansehen. Insofern spricht die Sentenz vom deutschen „Wandel durch Anbiederung“ gen Moskau Bände.

Mit Blick nach vorn wird die Notwendigkeit zum geostrategischen Farbebekennen für die deutsche Politik in dem Moment unausweichlich, in dem Joe Biden – wie sehr zu hoffen ist – am 20. Januar 2021 ins Weiße Haus einzieht. Denn dann verliert die deutsche Regierungspolitik die Anti-Trump-Karte als Rechtfertigung für ihr konstantes Wegducken.

In dem Moment werden wir irritiert feststellen, dass sich bei Kernthemen wie Nord Stream 2, China und Nato-Budget in der Position der US-Administration mit dem Präsidentenwechsel wenig ändern wird. Und wir werden schmerzhaft lernen, dass es längst nicht nur die bösen Republikaner sind, die von den Deutschen mehr Gradlinigkeit und weniger Schlawinertum fordern.

Joe Biden wird sicherlich mehr auf die Alliierten zugehen, aber vor allem aus der Motivation heraus, sie enger in den US-Kurs einzubinden, um so die Wirkungskraft der US-Außen- und Wirtschaftspolitik gegenüber Russland und China zu erhöhen. Einen schon damals vollkommen illusorischen Neustart („Reset“) der Beziehungen zu Moskau, von dem Hillary Clinton 2009 als neue US-Außenministerin träumte, wird eine Biden-Administration auch China nicht anbieten wollen.

Seit seiner Zeit als US-Vizepräsident, als ihm Xi Jinping – damals noch Vizepräsident Chinas – 2012 eine nicht aufs militärische Aufrüsten setzende Politik Chinas versprach, fühlt sich Biden vom heutigen chinesischen Präsidenten hintergangen. Er hat daraus gelernt.

Wilde geopolitische Gedankenspielereien

Was die deutsche Naivität in außenpolitischen Dingen anbelangt, so zeigt sie sich oft darin, dass wir allzu schnell bereit sind, wilden geopolitischen Gedankenspielereien zu verfallen. Das geschieht in aller Regel aus der vordergründig gut versteckten, aber dennoch klar durchscheinenden Motivation heraus, den eigenen Verantwortlichkeiten auszuweichen.

So wird im deutschen außenpolitischen Diskurs gern betont, dass wir Europäer uns einfach damit abfinden müssten, dass wir aus Sicht der USA wegen deren geostrategischer Kehrtwende gen Asien immer unwichtiger geworden sind. Die damit verbundene Annahme, dass wir insofern eher eine ruhige Kugel schieben können, ist aber sowohl inhaltlich als auch im aktuellen Zeitzusammenhang schlicht falsch.

Die Wende gen Asien (und dabei vor allem in Richtung China) beruhte ursprünglich auf der Hoffnung, dass die Dynamik des chinesischen Marktes US-Konzernen so viele Absatzchancen bieten würde, dass Europa als Absatzterritorium fortan weit weniger interessant sei. Diese Hoffnung macht sich in den US-Konzernzentralen heute kaum jemand mehr.

Und was die mittlerweile eindeutig im Vordergrund stehende geostrategische und geoökonomisch-technologische Auseinandersetzung mit China anbelangt, so ist von einer Biden-Administration nicht zu erwarten, dass sie diesen Konflikt grundlegend anders sieht als die Trump-Regierung.

Dies gilt umso mehr, als die Demokraten wegen ihres einstigen, äußerst engagierten Befürwortens einer WTO-Mitgliedschaft Chinas zu Recht am Pranger stehen. Der blinde Optimismus, den gerade die Clinton-Regierung diesbezüglich an den Tag legte, gilt heutzutage als grober Schnitzer.

Seitens der USA wurde der WTO-Zutritt Chinas nicht hart genug ausgehandelt. Von diesem groben Fehler müssen sich die Demokraten schnellstmöglich lösen. Das gilt parteiübergreifend für das gesamte US-Ostküstenestablishment. Frühere Wunschvorstellungen amerikanischer Strategen und Regierungspolitiker, wie etwa die Idee Bob Zoellicks von China als einem „verantwortungsbewussten Partner“, werden heutzutage als eine törichte Propagandavorlage für China betrachtet. Xi Jinping hat das für seine Idee der neokommunistischen chinesischen Macht- und Geopolitik perfekt ausgenutzt.

Extrawurst der Deutschen

Insofern steht zu erwarten, dass Joe Biden und seine Abgesandten eine klarere Positionierung der europäischen Verbündeten, aber vor allem Deutschlands in Sachen China und Menschenrechtsmissbräuche einfordern werden. Damit wird sich die zum Lavieren und Sich-Kleinreden neigende Bundesregierung sehr schwertun.

Auch die von manchen außenpolitischen Akteuren auf Bundesebene angewandte Rechtfertigung, sich mittels eines mechanistischen Äquidistanzdenkens als von den Amerikanern als genauso weit entfernt anzusehen wie gegenüber Moskau und Peking, trägt – wenn überhaupt – nur noch so lange, wie Donald Trump am Ruder ist.

Aufgrund des inländischen Trubels und des enormen wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungsbedarfs in den USA kommt noch ein Weiteres hinzu. Angesichts dieser inländischen Herausforderungen hat die Bereitschaft, uns Deutschen fortgesetzt eine Extrawurst zu braten, ihre natürlichen Grenzen gefunden.

Das gilt auch für eine von den Demokraten angeführte Bundesregierung, zumal sich in den Vereinigten Staaten nicht nur Corona-bedingt das Gefühl ausbreitet, in einem Entwicklungsland zu leben. Mit Blick auf die transatlantische Handlungsebene bedeutet das, dass wir nicht länger von der Annahme ausgehen können, weiterhin irgendwie Amerikas liebster Verbündeter zu sein. So, als ob für das zarte post-hitlersche Pflänzchen wegen dessen besonderer Geschichte immer Sonderregeln gelten.

Sophistische Scheinargumente

Nicht erst seit der Vergiftung Nawalnys erscheint es nicht nur den Amerikanern als kurios, dass wir uns den Russen weiterhin so geflissentlich andienen. Und das, obwohl die Russen die von der deutschen Seite einst angebotene „Modernisierungspartnerschaft“ bis heute genauso belächeln wie die Aufforderung der Bundeskanzlerin an die russische Justiz, die Vorgänge um Nawalny ernsthaft zu untersuchen.

Hinzu kommt, dass wir ein Verbündeter sind, der sich in 15 Jahren Merkel’scher Kanzlerschaft dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato kaum ernsthaft angenähert hat. Stattdessen hat man sich in immer neuen sophistischen Scheinargumenten verloren, um die parteiinternen symbolpolitischen Bedürfnisse des Koalitionspartners SPD zu bedienen und zugleich die Verbündeten in Osteuropa und im Baltikum zu düpieren.

Wir sind auch ein Verbündeter, der sich parteiübergreifend schnell erzürnt zeigt, wenn die USA mit einem Truppenabzug (beziehungsweise einer Verlegung) Ernst zu machen drohen, wie Trump dies ankündigte. Bei einem Personalkontingent der Bundeswehr von 180.000 Soldaten fällt das – weit über die strukturpolitische Schwächung um Grafenwöhr hinaus – unmittelbar ins verteidigungspolitische Kalkül.

Keine Frage: Donald Trump ist ein Tölpel, ein lügnerisch veranlagter Mensch, ein Macho und aller anderen unangenehmen Eigenschaften schuldig, die ihm zugeschrieben werden. Wie die sanktionsschwangeren US-Senatoren ist Trump vor allem eines: persönlich extrem geltungsbedürftig.

Aber all das ändert nichts an der Tatsache, dass unsere neogermanische Mischung von Empörungs-, Heldentums- und Blockadekultur, ob in Sachen Gazprom, Nord Stream 2 oder Verteidigungsbudget, in hohem Maße aufgebauscht ist. Letztlich legt sie nur die vielen Unausgereiftheiten der deutschen sicherheitspolitischen Debatte offen, die für unser Land ebenso peinlich wie peinsam ist.

Mehr: Die EU schlägt zurück: Wie sich die Staatengemeinschaft gegen Sanktionen wehren will.

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