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USA: Die Möglichkeit keiner Insel

Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Während Europa sich gerade vor sehr große Herausforderungen gestellt sieht, haben die meisten Amerikaner derzeit ein ganz anderes Lebensgefühl: Sie haben ihr Inseldasein selten so sehr genossen wie heute. Das Pikante an diesem herben Kontrast? Beides ist auf das intimste miteinander verbunden. Das aus amerikanischer Sicht seit langem als alt und schwach gebrandmarkte Europa muss, so zeichnet sich bereits jetzt ab, weit über Syrien und den Balkan hinaus nun den Bumerangeffekt rücksichtsloser amerikanischer Außenpolitik fürchten. Und das praktisch ohne jeden Schutzschild.

Selten hat die Geographie eine so große Rolle gespielt wie aktuell. Da kann sich eine Nation, die amerikanische, ein gutes Jahrzehnt daran ergötzen, am „Great Game“ teilzuhaben, vermeintlich, um hierfür in dieser Form völlig ungeeignete Länder zu „demokratisieren.“ Und nachdem dieser Versuch fehlgeschlagen und so gut wie alles Porzellan zertrümmert ist, echauffieren sich dieselben Vereinigten Staaten aus der sicheren Distanz eines Ozeans als Pufferzone heraus über den mangelnden Willen Europas, Migranten bei sich aufzunehmen. Das ist dieselbe Nation, die wir herkömmlicherweise als „großen Bruder“ und unseren „wichtigsten Bündnispartner“ titulieren. Die Ironie dieser Geschichte bleibt einem regelrecht im Hals stecken.

Mit guten Ratschlägen ist Amerika schnell zur Stelle

Die traditionellen Grundprinzipien der Außenpolitik – wer Porzellan zerschlägt, muss es dann auch wieder zusammenkitten (getreu dem schönen amerikanischen Motto „you break it, you own it“) – sind inzwischen vollkommen außer Kraft gesetzt. Dabei kommt der sogenannten Pottery-Barn-Regel, nach der gleichnamigen Einkaufskette benannt, pikanterweise ausgerechnet in der zeitgenössischen amerikanischen Außenpolitik eine gewichtige Rolle zu. Es war der seinerzeitige Außenminister Colin Powell, der den Präsidenten George W. Bush mit dieser Bemerkung davor warnte, leichtfertig in den Irak einzumarschieren. Bush schlug diese Warnung bekanntermaßen in den Wind. Ein Jahrzehnt später dämmert auch den letzten Europäern, denen heute die Folgen der Destabilisierung einer ganzen Region in Form von massiven, weit über die aktuellen Zahlen hinauswachsenden Flüchtlingsströmen begegnen, welche unabsehbaren der Irak-Krieg gerade auch für sie nach sich zieht.

Das unverantwortliche Handeln der Amerikaner, das zurzeit seine Fortsetzung in der klinischen Distanz gegenüber den von ihnen selbst produzierten Flüchtlingsbewegungen erfährt, beschert Europa zurzeit eine Völkerwanderung der besonderen Art. Ein Schelm, der dahinter etwa eine Strategie der Amerikaner vermutet, Europa auf diese Weise „revitalisieren“. Mit guten Ratschlägen – nicht zuletzt zur Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen in Europa – ist Amerika immer schnell zur Stelle. Doch wir sollten uns die amerikanische Scheinheiligkeit auch in dieser Frage vor Augen führen.

Wie gut es den Arabern geht!

Trotz allen amerikanischen Geredes darüber, wie gut die Muslime dort integriert sind, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass weniger als ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung Muslime sind. Hingegen sind es in Deutschland fünf und in Frankreich 7,5 Prozent. Um allein mit Deutschland aufzuschließen, müsste Amerika zwölf Millionen Muslime aufnehmen.

Wie vornehm sich das Land ausgerechnet bei dieser Kernfrage der Offenheit des Westens zurückhält, wird auch an etwas anderem deutlich: In internationalen Diskussionen betonen Amerikaner immer wieder, wie viele Araber es in ihrer Bevölkerung gibt und wie gut es diesen gehe. Damit wird der Eindruck erweckt, die Europäer diskriminierten entweder „ihre“ Muslime oder seien nicht in der Lage, deren wirtschaftliches Potential zutage zu bringen. Was dabei unterschlagen wird: Noch nicht einmal vierzig Prozent der in Amerika lebenden Araber sind Muslime, viele sind Christen.

Jenseits aller bevölkerungspolitischen Fragen haben die Europäer viele andere Fragen neu zu durchdenken. Die wichtigste Lektion, die den Europäern aktuell erteilt wird, ist, ein für alle Mal zu verstehen, wie fatal es ist, sich nur als ein stets treuer Verbündeter der Vereinigten Staaten zu verstehen. Wer keine eigene strategische Vision für die Weltpolitik hat oder diese nicht mit Nachdruck verteidigt und umzusetzen bereit ist, der degradiert sich eben selbst zur Mittelmacht.

Vernarrt in ihre Drohnen

Und so sehr man in Europa in den vergangenen fünf Jahren im Zusammenhang mit der Eurozone über die „Peripherie“ (und deren inhärente Schwäche) geredet hat, so sollte man doch verstehen, wie sehr die Amerikaner es vorziehen und davon profitieren, geographisch an der Peripherie der Weltpolitik positioniert zu sein. Es ist schon eine merkwürdige Umkehrung vermeintlich eherner Gesetze der Geopolitik: Früher galt eine große Entfernung vom Herd des Geschehens immer als Nachteil. Heute bedeutet Distanz Stärke.

Diese Funktionsregel unterstreicht auch, warum die Amerikaner so sehr in ihre Drohnen vernarrt sind: In geradezu antiseptischer Form heben diese Drohnen den militärischen Nachteil der Entfernung auf. Nun mögen die Amerikaner sagen, dass sie mit Mexiko auch ihr eigenes Flüchtlingsproblem haben. Dabei sollte allerdings niemand vergessen, dass die Preise in den Vereinigten Staaten auch gerade deshalb so niedrig sind, weil man eben je nach Bedarf auf Mexiko und Zentralamerika als Arbeitsreserve Zugriff hat.

Die amerikanischen Gedanken mit Blick auf Europa reichen weit über die aktuelle Krise im Mittleren Osten hinaus. Immerhin besagen die neuen Bevölkerungsschätzungen der Vereinten Nationen, dass Afrika, welches heute schon 1,2 Milliarden Menschen zählt, für das Jahr 2100 circa vier Milliarden Menschen erwartet, von denen gar manche mit Sicherheit das Ziel Europa haben. Kein Wunder also, dass die Amerikaner beim Blick auf die Fernsehbilder aus Europa eine Mischung von Gruseln, Nervenkitzel und Erleichterung erfasst – man lebt ja in sicherer Distanz von diesen Bevölkerungsexplosionen.

Ein Akt des groben Zynismus

Das Lebensgefühl in Washington und anderswo im Land ist im Moment der berühmten Schlagzeile der London Times vom Oktober 1957 ähnlich, derzufolge Europa (wegen schweren Nebels über dem Ärmelkanal) „abgeschnitten“ war. Präsident Obama hat großzügig die Bereitschaft erklärt, im kommenden Jahr 10.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Und wenn Außenminister Kerry nun unlängst annonciert hat, dass sein Land bis 2017 insgesamt 100.000 Flüchtlinge aus aller Welt aufzunehmen bereit sind, ist auch dies bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein und nur 30.000 mehr als der gegenwärtige Jahresdurchschnitt von 70.000.

Auch diese Offerte ist kaum etwas anderes als ein Akt des groben Zynismus – und das gar einmal nicht deshalb, weil etwa die Deutschen damit rechnen, mindestens 800.000 Flüchtlinge in diesem Jahr bei sich aufzunehmen.

Abgesehen vom Problemfall Syrien, der aus einer Gemengelage von Fehlern verschiedenster Nationen herrührt, müsste Amerika aus seinen De-facto-Protektoraten Irak und Afghanistan gemäß der Pottery-Barn-Regel eigentlich alle Flüchtlinge, die ja nicht nur „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind, bei sich aufnehmen und als solche anerkennen – eine europäische Luftbrücke könnte dabei hilfreich sein. In Relation zu den von Europa absorbierten Flüchtlingsströmen wäre daran nichts Vermessenes. Es entspräche nur dem Unterschied in den Bevölkerungsgrößen Deutschlands und der Vereinigten Staaten. Das wären dann allein in diesem Jahr mehr als eine Million Menschen.

Sicherheitspolitik nur dann, wenn sie teuer ist

Eine ursachenorientierte Flüchtlingsaufnahme in den Amerika würde nicht nur helfen, perspektivisch eine Äquivalenz beim muslimischen Bevölkerungsanteil zwischen Europa und den Vereinigten Staaten herzustellen. Vor allem würde ein solcher massiver Transfer von Menschen der amerikanischen Bevölkerung nachhaltig vor Augen führen, wie verantwortungslos das vermeintlich heroische außenpolitische Gebaren der politisch-militärischen Führung in Washington in Wirklichkeit ist.

Dann würde dem Durchschnittsamerikaner auch endlich bewusst, warum der außenpolitische Apparat Washingtons so sehr darauf bedacht ist, rund um die Welt herum zu marodieren. Der Grund hierfür ist ganz einfach und zugleich vollkommen verwirrend, denn mit Demokratisierungszielen hat er kaum etwas zu tun: Aus Sicht der Eliten haben Außen- und Sicherheitspolitik nur dann Sinn, wenn sie teuer sind. Denn nur dann können Rüstungskonzerne, Ingenieurs-, Bau-, Beratungs-, Logistik- und Lobbyfirmen auch ordentlich Geld verdienen.

Wenn ein außenpolitischer Kurs hingegen nicht kostenaufwendig ist, dann lohnt es sich aus dieser Perspektive eher nicht, überhaupt Außenpolitik zu betreiben. Kein Wunder, wenn sich die Europäer angesichts eines solchen maßlosen Gebarens ihres eigenen „großen Bruders“ nicht nur vor den Kopf gestoßen fühlen, sondern ganz allgemein die Orientierung verlieren.

Die Deutschen können und werden sich vor ihrem Anteil an der Bewältigung der gewaltigen Flüchtlingsströme nicht drücken. Aber die Lasten müssen, schon auf Grund des Verursacherprinzips, im westlichen Bündnis gerecht verteilt werden. Während einige europäische Länder für ihren Unwillen gebrandmarkt werden, segelt Amerika faktisch in deren Windschatten und ist, mit seinem unvergleichlich geringen Anteil an Muslimen in der Gesamtbevölkerung, in statistisch umkomfortabler Nähe zur Tschechischen Republik, zur Slowakei, zu Ungarn und Rumänien. Der Atlantik war noch nie so breit wie heute.

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