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US-Außenpolitik: Aus Prinzip verantwortungslos

Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung (HTML) | PDF.

Zu den überraschenden Privilegien des Lebens in der amerikanischen Hauptstadt gehört es, dass der Eintritt in die öffentlichen Schwimmbäder für die Einwohner der Stadt frei ist. Dieses Angebot der öffentlichen Hand nutze ich dreimal die Woche für jeweils eine halbe Stunde. So stand ich vor kurzem an einem Sonntag wieder einmal gedankenverloren an der Kasse, wo die Kontrolle der städtischen Meldebestätigung stattfindet. Reine Routine.

Doch diesmal ist etwas anders. Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich, dass der Mann, der genau vor mir in der Schlange steht, ein ehemals bekannter Politiker ist: Paul Wolfowitz, unter Präsident George W. Bush nicht nur stellvertretender Verteidigungsminister, sondern auch Chefarchitekt – wenn nicht gar hinter den Kulissen Chefantreiber – der fatalen Irak-Invasion im Jahr 2003. Wolfowitz argumentierte unerschütterlich, Saddams Irak stecke hinter Al Qaida und den Anschlägen vom 11. September 2001. Er hatte seinen amerikanischen Mitbürgern versprochen, dass sich die Irak-Invasion von selbst finanzieren würde, weil den Vereinigten Staaten Einnahmen aus der nach dem Einmarsch in den Irak gesteigerten Ölproduktion zugutekämen. Im besten Fall war das eine grobe Fehleinschätzung. Wahrscheinlicher ist, dass es eine bewusst in Kauf genommene Notlüge war, um den Amerikanern vorzugaukeln, das ganze Manöver zur Befreiung des Iraks – natürlich im Geiste der Demokratieförderung – sei umsonst zu haben.

Da es in diesem Sommer in den Vereinigten Staaten jüngst absonderlich viele Nachrichten über Haiangriffe an den Badestränden der Ostküste gegeben hat, kam mir – in entspannter Sonntagslaune – das Bild in den Kopf, dass es nun wohl auch in Washington solche Hai-Attacken im Wasser gibt. Jedenfalls sind die Opfer des Wirkens von Paul Wolfowitz mit Blick auf Menschenleben und Verstümmelungen – schon allein unter amerikanischen Soldaten gerechnet – sehr viel höher als das Unwesen, das alle Haie über Jahrhunderte zusammengenommen getrieben haben. Es gibt Schätzungen, denen zufolge selbst bis ins späte sechzehnte Jahrhundert zurückgerechnet noch keine tausend Menschen von Haien getötet worden sind.

Nicht auf die Pelle rücken

Ungeachtet solcher Überlegungen gehört es in der amerikanischen Hauptstadt, in der einem ehemalige Offizielle mit einiger Regelmäßigkeit über den Weg laufen, zum guten Ton, selbst solchen Zeitgenossen, die in ihrer Amtszeit massiv danebengegriffen haben, nicht auf die Pelle zu rücken. Sie sind nun eben wieder Privatleute. Ohne meinen Mitschwimmer Wolfowitz also ins Gespräch zu ziehen, kam mir doch ein pikanter Gedanke: Wie wäre es, wenn dieser Mann nicht das Privileg der amerikanischen Staatsbürgerschaft genießen würde? Was wäre, wenn er stattdessen zum Beispiel Serbe wäre? Unter solchen Vorzeichen könnte er wohl in keinem öffentlichen Schwimmbad der zivilisierten Welt das Privileg für sich in Anspruch nehmen zu baden. Denn wäre Wolfowitz Serbe, hätte er wohl heutzutage eine Anklage des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gegen sich laufen. So, wie es im Fall von Milosević und anderen der Fall ist. Die Vereinigten Staaten haben aber bekanntermaßen die Konvention zur Einrichtung des Strafgerichtshofs nicht unterzeichnet, um ihre Amtsträger just vor solchen Zugriffen zu schützen.

Paul Wolfowitz selbst stellt gar nicht das eigentliche Problem dar, er ist vielmehr ein Symptom dafür. Warum ist es bei allem Gerede in den Vereinigten Staaten über die Unentbehrlichkeit von Eigenverantwortung als gesellschaftlichem Organisationsprinzip zugleich so, dass wir unseren Staatsbürgern Straflosigkeit zugestehen, wenn es um das Wirken im öffentlichen Raum geht? Der Anwendungsbereich für diese sonderbare amerikanische Doktrin reicht dabei weit über Fragen des Krieg-vom-Zaune-Brechens hinaus. Bedenken wir nur die folgenden sechs Tatbestände.

Nach der Präsidentenwahl im November 2000 schwingt sich der Oberste Gerichtshof dazu auf, den neuen Präsidenten zu bestimmen. Er verzichtet dabei darauf, den Auszählprozess im wahlentscheidenden Bundesstaat Florida in ordentlicher Weise wiederholen zu lassen, um so ein verlässliches Bürgervotum sicherzustellen.

Don’t ask, don’t tell

Das politische Washington, so reich es bekanntermaßen an Informationsquellen bis hin zur feinsten Verästelung weltweiter Spionage mittels der NSA-Tentakel ist, ignoriert Warnungen im Vorfeld des 11. Septembers 2001. Dafür ist bis heute niemand zur Verantwortung gezogen worden. Obendrein wird auch das dubiose Wirken Saudi-Arabiens im unmittelbaren Umfeld der Anschläge bis heute unter Verschluss gehalten. Wer will da wen schützen und warum?

Die Fehler im Umfeld des Irak-Krieges reichten über den Tatbestand fingierter Belege für das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen hinaus. Während der anschließenden Besatzung wurden immer wieder schwere Fehler begangen. Es wurden Milliarden Dollar für den Wiederaufbau veruntreut. Die Konsequenzen? Am besten sind sie mit den englischen Worten beschrieben: Don’t ask, don’t tell.

Wer erinnert sich heute noch – trotz allen damaligen Medienspektakels – an die katastrophalen Zustände, die im August 2005 vor allem in New Orleans zu den tödlichen Effekten des Hurrikans „Katrina“ geführt haben? Auch hier blieb es bei der Frage nach juristischen Konsequenzen bei einer Fehlanzeige.

Und dann der Subprime-Skandal, der 2008 zur großen weltweiten Finanzkrise führte, die auf die eine oder andere Weise bis heute nachhallt? Während hier die Unerfahrenheit und zum Teil auch die Ignoranz unterer amerikanischer Einkommensschichten, insbesondere von hispanischen Immigranten, ausgenutzt wurde, vertritt das „Wall Street Journal“ resolut bis zum heutigen Tag eine ganz andere Meinung: Die eigentliche Ursache sei in zu rigiden Regierungsvorschriften zur Förderung des Wohnungseigentums auch für untere Einkommensschichten zu erkennen. Das erklärt aber nicht, warum das Ganze eine solche Reichweite hatte. Auch bleibt äußerst fraglich, warum sich die amerikanische Bundesbank, die ja der Wahrung der volkswirtschaftlichen und finanziellen Wohlfahrt des Landes verpflichtet ist, zu keinem Zeitpunkt genötigt sah, beim dunklen Schaffen vieler Makler und Bankiers einzugreifen. Ihr damaliger Präsident Alan Greenspan hat das nachträglich mit seinem Glauben an die Autorin Ayn Rand gerechtfertigt. Und er hat sogar das Wort „Sorry“ in den Mund genommen. Aber zur Verantwortung gezogen wurde er nicht.

Die Frage nach persönlicher Verantwortung

Schließlich die vielen Missstände an der Wall Street, die sehr viel eher einem Kasino als einem kompetent verwalteten hochkomplexen Finanzgebilde glich. Ausländische Banken – und dabei französische noch sehr viel heftiger als deutsche oder englische – sind hart belangt worden. Was die Missgriffe amerikanischer Banken angeht, waltete Milde. Und was unsere eigentliche Frage nach persönlicher Verantwortung anbelangt, so gilt bis heute, dass die Wall Street nach wie vor ein Paradebeispiel für die amerikanische Doktrin der Straflosigkeit ist.

An deren Fortdauer hat auch der amtierende Präsident seinen gehörigen Anteil. Im Wahlkampf von 2008 hatte Obama immer wieder betont, im Falle seines Sieges das business als usual Washingtons – die Römer nannten es „manus manum lavat“ – nicht länger dulden zu wollen. Doch rückte er schon vor seinem Einzug ins Weiße Haus von diesem Vorhaben wieder ab. In typisch amerikanischer Weise betonte er, dass er fortan lieber nach vorne schauen und nicht zu viel Vergangenheitsbewältigung betreiben wolle. Diesen Persilschein haben die alten Eliten der Ära George W. Bush bestens genutzt.

Von ausländischer Warte aus mutet es schon etwas befremdlich an: Einerseits reicht der lange Arm des amerikanischen Gesetzes glücklicherweise so weit, dass weltweit Fifa-Funktionäre, gleich welcher Herkunftsnation, vor den amerikanischen Kadi gebracht werden können. Andererseits können Wolfowitz, Cheney oder Rumsfeld, die vergleichsweise weit mehr Dreck am Stecken haben, weiterhin frei herumtollen.

Was bedeutet all das für das Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit? Etwas Fatales: Es herrscht ein permanenter Zustand kollektiver Amnesie. Gewiss hilft es bei der Schärfung des Verantwortungsbewusstseins und Verantwortungsstrebens – offiziell zentrale Kategorien amerikanischen Bürgersinns – nicht, wenn ehedem ranghohe oder hochbezahlte Missetäter ungehindert in ihre alten Fußstapfen treten können. Und hier schließt sich dann der Kreis meines sonntäglichen Ausflugs in den Swimmingpool: Über Paul Wolfowitz wird bereits berichtet, dass ihm in einer künftigen Administration des dritten Bushs, Jeb, des Bruders von George W., so es denn tatsächlich dazu kommen sollte, eine sehr verantwortliche Position zugeteilt würde. Für diese Aufgabe macht sich Wolfowitz schon heute fit, indem er schwimmen geht.

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