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Unrettbares Amerika?

Shealah Craighead/White House

Veröffentlicht in Der Tagesspiegel unter Das gelähmte Amerika (PDF).

Wann immer die Amerikaner in den vergangenen Jahren über den politischen Stillstand in ihrem Land und das Ätzende in ihrer Politik richtig frustriert waren, konnten sie sich immer mit einer Tatsache trösten: Die Dinge in Frankreich, ihrem brüderlichen Revolutionspartner von einst und heute einer Präsidentialdemokratie, die der amerikanischen ähnlich ist, waren viel schlimmer.

Doch mit der Wahl Emmanuel Macrons ist diese amerikanische Beruhigungspille rüde zerplatzt. Auch wenn Macron den Beweis seiner Fähigkeiten im Regierungsalltag noch antreten muss, steht eine fundamentale Wahrheit schon fest: Der Ruf eines maroden politischen Systems, das nur äußerst wieder auf die Beine kommen wird, haftet von nun an den USA an.

Diese Feststellung repräsentiert ein wahres Erdbeben in der politischen Gegenwart.

Was manch einem zunächst noch als maßlose Übertreibung vorkommen mag, hat vielfältige Gründe. Das fängt mit der stets mantrahaft vorgetragenen Rezitation der „checks and balances“ an. Auch wenn diese geeignet sein mögen, das Schlimmste etwa von Trumps Exzessen zu blockieren, adressiert dieser Mechanismus nicht den Kern des politischen Problems der USA. Und auch den allzu lange reflexiv vorgegebenen amerikanischen Optimismus sollte man besser als Wirklichkeitsverweigerung – und damit besser als Kontraindikator – verstehen.

In den Vereinigten Staaten stellt sich ja inzwischen nicht nur ernsthaft die Frage nach der inneren Friedensfertigkeit der Gesellschaft, sondern noch viel radikaler die des miteinander Leben Wollens. Im Grunde stellt sich in den USA zunehmend die Frage, ob es sich noch um eine „Gesellschaft“ handelt. Denn gerade an der dafür erforder-lichen Bereitschaft, auch auf politisch (!) Andersgesinnte zuzugehen, fehlt es immer mehr.

In gewisser Weise scheint es, als hätten die Amerikaner die wahrhaft abgrundtiefen Schwierigkeiten schon lange erkannt. Denn daher rührt wohl die immer dringlicher geäußerte Hoffnung, einen wahrhaft „transformativen“ Präsidenten zu finden.

Wegen der Sklerotisierung des politischen Systems, so die Theorie, bedarf es einer Persönlichkeit im Weißen Haus, die – mit einem direkten Mandat der Wähler ausgestattet – die gesamte Vermaledeitheit zu überwinden vermag.

Wirklich besonders?

Die Geschichte meint es da aber nicht gut mit den Amerikanern. Die hehren Hoffnungen, die etwa in John F. Kennedy oder Barack Obama bei ihrem jeweiligen Amtsantritt gesetzt wurden, verpufften sehr schnell.

Und Ronald Reagan, der US-Präsident der achtziger Jahre, bleibt zwar eine Ikone der ideologischen Rechten; seine „transformativen“ Kräfte blieben aber auf sein eigenes politisches Lager beschränkt.

Donald Trump wurde von seinen Wählern 2016 als eine neuerliche Inkarnation des Heilsbringers auserkoren. Diese Hoffnung ist allerdings jenseits seiner eisernen Getreuen bereits nach wenigen Monaten im Amt total verpufft.

Warum ist es für US-Präsidenten, die doch im Vergleich zu europäischen Premierministers und Bundeskanzlern vermeintlich mit solcher Omnipotenz ausgestattet sind, nun so schwer, an der Heimatfront erfolgreich zu sein?

Der Grund dafür ist so einfach, wie er überraschend ist. Im politischen System der USA, ganz anders als im französischen System, das von de Gaulle restrukturiert wurde, hat niemand – nicht einmal ein Präsident, der mit großen Mehrheiten gewählt wurde – wirklich die Macht, Dinge zu gestalten.

Er ist immer nur ein Machtzentrum unter mehreren. Und der schöne Schein, mittels allerlei Pomp seine fast feudalistische Königshaftigkeit herauszustreichen, ist ja in Wirklichkeit nur Illusion. Dem Volk wird damit die angebliche Omnipotenz des Präsidenten regelrecht vorgegaukelt.

Ein Nullsummenspiel

In Wirklichkeit ist der gesamte amerikanische Politikbetrieb von großem Misstrauen gegenüber den anderen Machtzentren geprägt. Das ist die Kernfunktion der „checks and balances.“ Die ausgiebigen Minderheitsrechte, die insbesondere im Senat sehr ausgeprägt sind, haben vornehmlich eine Funktion: Sie führen zu starken Hindernissen für modernisierende Veränderungen.

So „unamerikanisch“ es erscheinen mag, aber ein gut Teil des amerikanischen Politikbetriebes ist zur Imzaumhaltung des – so die Furcht der Gründungsväter – revolutionär veranlagten Volkes geschaffen worden. Konservativer Inkrementalismus, nicht echter Wandel ist im politischen System der Vereinigten Staaten des Pudels wahrer Kern.

In der Theorie soll das strikte Zwei-Parteien-System der Vereinigten Staaten die politische Entscheidungsfindung erleichtern, indem es eine rein binäre Wahlmöglichkeit forciert. In Wirklichkeit erstickt der Zweiparteienstaat jegliche politische Dynamik.

Der Erbe von Frankreichs Stillstand

Und so sind es nun die USA, die den Mantel der französischen Fünften Republik mit ihren zersetzenden Tendenzen geerbt hat. Politisches Handeln verkommt so immer mehr zu reinem Partisanentum.

Theoretisch sollten die Amerikaner aus der Tatsache Hoffnung schöpfen können, dass Frank–reich bis vor wenigen Monaten in demselben Teufelszyklus verhaftet war. Die französischen Sozialisten und Republikaner, die beiden dominierenden Parteien des Landes, waren so sehr aufeinander fixiert, dass sie immer weniger auf die realen Bedürfnisse der Menschen in ihrem Land eingingen.

Das einzige Ziel der Berufspolitiker schien ihr Wunsch zu sein, über dem französischen Volk zu thronen – so als seien sie eine Kaste von Hohepriestern. Dementsprechend nahmen sie Privilegien für selbstverständlich, die oftmals grotesk waren, in jedem Fall aber nicht mehr zeitgemäß sind.

Ein solches politisches System bewegt sich unweigerlich in Richtung des Zusammenbruches. Da die französischen Wähler Emmanuel Macron nun eine erstaunlich freie Hand gegeben haben, wird die Welt ein Live-Experiment erleben. Die präzise Fragestellung ist, ob eine solche Transformation in dem angeblich so traditionsverhafteten Frankreich funktionieren kann, während das in den (vermeintlich dynamischen) Vereinigten Staaten allem Anschein nach nicht möglich ist.

Denn Macron hat es mit seiner République en marche (REM)-Partei geschafft, die fünfte Republik mit ihrem rigorosen Zwei-Parteien-System faktisch zu implodieren.

An dessen Stelle hat Macron eine überparteiliche Koalition gesetzt, die den alles lähmenden, scharfen Links-Rechts-Disput aus den Angeln hebt. Das ist eine politische Revolution, die sich ganz ohne Verfassungsänderung vollzogen hat.

Damit setzt er, so ist zu hoffen, der steten Korrosion des Politikbetriebes, bei der man vom Nullsummenspiel zum Negativsummenspiel abgestiegen war, ein Ende.

Nirgendwo sollte dieser Wandel von so unmittelbarem Interesse sein wie in den Vereinigten Staaten. Allerdings werden die Amerikaner dabei auf ein unschönes Ergebnis stoßen: In den USA gibt es keine wirkliche Hoffnung, einen Weg wie Macron zu beschreiten.

Diese Feststellung ist umso fataler als die Methode von Macrons quasi-wunderhaften Aufstieg nach Mechanismen erfolgte, die die gesamte Welt immer nur mit den Amerikanern assoziiert hat. Ein Mann wirft seinen Hut in den Ring – et voilà, er wird nicht nur zum Präsidenten gewählt, sondern das Wahlvolk gibt ihm auch im Parlament die notwendigen Mehrheiten, um den überfälligen Wandel herbeizuführen.

Trump mag vorgeben, ähnliches vorzuhaben. Aber ihm ging es niemals um das Land, nur um seinen Ego-Trip. Bei genauer Betrachtung ist er die cholerische Überzeichnung eines Politikverständnisses, das dem Nihilismus gefährlich nahesteht.

Dass sich der politische Apparat der USA zudem mittels des Systems der Wahlkampffinanzierung und des „Gerrymandering“ – also der Schaffung von Wahlbezirken, die wie wilde Krebswucherungen aussehen, um Wahlsiege für bevorzugte Parteien zu garantieren – weiter pervertiert, erhöht den Grad der Selbstabschottung der professionellen Politik und der Bürgerferne nur noch weiter.

Es sei denn, dass Macron sich als wahrer Flop entpuppt, und die Chancen dafür stehen nahe null, muss die gesamte Welt fortan umdenken. Es sind fortan nicht länger die Franzosen, die hals tief im politischen Morast feststecken, sondern die vermeintlich so flexiblen Amerikaner. Also die Nation, die bisher immer geglaubt hat, sich Münchhausenhaft aufgrund einer Vorsehung der Weltgeschichte jedem Schlamassel entweichen zu können.

Weite Teile der Welt hoffen darauf. Aber die bisher praktizierte amerikanische Neigung zum Gesundbeten in eigener Sache hilft da nicht weiter. Angesichts der Unmöglichkeit einer tiefgreifenden Verfassungsänderung, etwa in Richtung einer parlamentarischen Demokratie, um auf Zeit verlässliche Mehrheiten zu schaffen, ist aber schwer vorstellbar, wie sich die USA heilen können.

Und genau deshalb ist die aktuelle politische Krise Amerikas tiefer und hoffnungsloser als es die Krise Frankreichs in der fünften Republik je war. Ein deus ex machina à la Macron wird den Amerikanern jedenfalls nicht helfen.

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