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Großbritannien – der Eigentorweltmeister. Britische Seelenlage im Brexit-Zeitalter.

Deutschland -England: Podolskis Abschiedsspiel endete 1:0. Im britischen Abschiedsspiel aus Europa sind bereits vor dem Schlusspfiff einige Eigentore gefallen

Deutschland -England: Podolskis Abschiedsspiel endete 1:0. Im britischen Abschiedsspiel aus Europa sind bereits vor dem Schlusspfiff einige Eigentore gefallen.

 

 

Erschienen in Manager Magazin

Manager Magazin | Wir leben in einer kuriosen Welt: Eigentlich sind sich Deutsche und Briten sehr viel näher als sie sich gemeinhin eingestehen. Doch der Betriebsunfall des Brexit-Referendums macht die Lage künftig viel komplizierter.

Haben Briten und Deutsche auf politischer Ebene etwas zu besprechen, bedarf es fortan besonderer Terminarrangements, um sich zu treffen. So informell, wie dies selbst auf Ministerebene als Teil des permanenten Brüsseler Politikbetriebs möglich war, wird das nach dem Ausscheiden der Briten aus der EU nicht mehr möglich sein.

Und dennoch: Wie auf der stets aufschlussreichen deutsch-britischen 68. Königswinter-Tagung in Oxford zuletzt klar zum Vorschein kam, schwebt über dem britischen Brexit-Manöver etwas Surreales. Noch immer haben die Briten keinen realistischen Plan, wie es in den Beziehungen zu Europa weitergehen soll.

Noch immer lassen sie sich von einer langen Liste von Wunschvorstellungen leiten. Noch immer hoffen die Briten, darin ganz den Chinesen gleich, einzelne europäische Nationen weichzuklopfen und für sich einzunehmen, um damit einen Spalt durch die EU zu treiben.

Die deutsche Seite nimmt all diese Manöver verwundert zur Kenntnis. Vor allem verwundert, dass die Briten allem Anschein nach beim Brexit von ihren Kerntugenden ablassen – einem schonungslos realitätsorientierten Pragmatismus und einem unablässigen Streben nach dem eigenen kommerziellen Vorteil.

Ein von Wunschträumen getriebener Naivling – vom britischen Pragmatiker ist wenig übrig

Irgendwie ist es, als ob die Rolle des (deutschen) Michels jetzt auf die Briten übergegangen ist – als dem neuen, von Wunschträumen getriebenen Naivling in Europa.

Angesichts dieser eigentlich eher fatalen Lage freuen sich die Briten darüber, dass die deutsche Seite endlich von dem Versuch abgelassen hat, auf eine Aufhebung des Brexit hinzuwirken. Endlich erkennt ihr unsere souveräne Entscheidung an, heißt es da erleichtert.

Wenn dann allerdings von deutscher Seite darauf hingewiesen wird, dass die Briten auch mit allen Konsequenzen des Ausstiegsmanövers zurechtkommen müssen, halten sie das für zumindest herzlos. Mitunter kommen auch deutlich martialischere Töne auf.

Auf deutscher Seite ist die Klarheit, mit der die Konsequenzen des Ausstiegsmanövers beschrieben werden, ein Novum. Statt wie gewohnt herumzudrucksen, sprechen selbst die Vertreter deutscher Unternehmen in Großbritannien jetzt ungeschminkt davon, dass man entsprechend reagieren werde.

Eine ganze Reihe von Eigentoren

Angesichts immer intensiver getakteter Zuliefererketten wird ein reibungslos verkaufender Im- und Export – d.h. Verbleib in der Zollunion – als Grundvoraussetzung angesehen. Andernfalls ist mit der Verlagerung von Produktionsstätten auf den Kontinent zu rechnen, was natürlich auch Konsequenzen auf dem britischen Arbeitsmarkt nach sich ziehen wird.

Trotz allen britischen Insistierens auf dem Brexit – die besser als Borniertheit zu verstehen ist – kratzen sich die Deutschen weiterhin am Kopf. Als traditionelle Fußballnation, so denkt man sich, müssten gerade die Briten die Problematik von Eigentoren verstehen. Warum man mit dem Brexit allerdings eine ganze Reihe von Eigentoren schießen will, bleibt vollkommen unverständlich.

Vielleicht liegt das ja auch daran, dass die britische Seite immer wieder eingesteht, welch intensive Sprachkontrolle von Seiten von Downing Street No. 10 über alle Äußerungen zum Thema Brexit ausgeübt wird. Das hat schon chinesische – wenn nicht paranoide – Züge.

Irgendwie haftet dem ganzen Brexitmanöver trotz aller britischer Betonung von Finalität weiterhin der Charakter einer im Umfeld einer Ehescheidung angeordneten Probetrennung an. Aber ganz so, wie dies in der Sky-Serie „Billions“ bei Paul Giamatti und Maggie Siff der Fall ist, fragt sich das Publikum nach dem Sinn des Trennungsmanövers. Denn in der Tat hat man sich noch viel zu sagen.

Lieber alleine ein kleineres Orchester dirigieren

Dies gilt eigentlich auch für die Schlüsselfragen der wirtschaftlichen Zukunft Großbritanniens. Auch wenn gerade Deutsche und Briten hier viel gemeinsam erreichen könnten, wird dieser entscheidende Teil der Gleichung stiefmütterlich behandelt. Eines steht fest: Mit einer „splendid isolation“ ist insbesondere den britischen Arbeitnehmern nicht gedient.

Das ist fast schon tragisch, wenn man sich das Bestreben des britischen Wirtschaftsministers Gregory Clark vor Augen führt. Er hat sich nicht nur die Ausformulierung einer detaillierten „Industrial Strategy“ für sein Land auf die Fahnen geschrieben, sondern diese mittlerweile auch geliefert.

Das ist an sich ein kulturelles Wunder, denn im Vereinigten Königreich galt ein solcher planerischer Ansatz bisher immer als Teufelswerk – genaugenommen als EU-Teufelswerk.

Keine Frage: In der Tat könnte diese Strategie dem Land langfristig zur Wohlstandsmehrung dienen. Denn gerade auch die britische Industrie hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten dank der engen Integration in kontinentaleuropäische Lieferketten viel an Dynamik gewonnen. Darauf könnte man jetzt aufbauen.

Stattdessen insistiert die Regierung auf dem EU-Ausstieg. Diese wird in den seltener gewordenen, ehrlichen Momenten am glaubwürdigsten damit begründet, dass man innerhalb der EU unglücklich sei, weil man nur zweite Geige spiele. Da sei es schon sehr viel britischer, wider allein dazustehen und gegebenenfalls ein kleineres Orchester zu dirigieren.

Auf den Commonwealth kann man nicht ernsthaft eine Handelsstrategie aufbauen

Und sei es der Commonwealth. Auch das ist freilich ein Blütentraum. Natürlich erinnert die Gruppierung an britisch-imperiale Zeiten. Aber ohne Indien, mit dem es sehr schwer ist, ein Freihandelsabkommen abzuschließen, und ohne Großbritannien bringen alle Commonwealth-Nationen weniger als 3 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung auf die Waage. Darauf kann man aber nicht ernsthaft eine Handelsstrategie aufbauen.

Auch deshalb denkt sich so mancher Deutsche, der zum wiederholten Mal an der exzellenten Königswinter-Konferenz teilgenommen hat, dass der traditionelle Pragmatismus der Briten irgendwann doch noch deus-ex-machinahaft zum Vorschein kommen muss. Denn das Streben nach dem eigenen kommerziellen Vorteil einer Händlernation wie der britischen ja eigentlich in die DNA kodiert.

Dennoch legen die Briten weiterhin eine merkwürdige Prinzipienreiterei an den Tag. Mit anderen Worten: Sie praktizieren eine eher deutsche Untugend.

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