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Die Dieselkrise und die Flüchtlingskrise: Die fatalen Parallelen

Die deutsche Auto-Kratie

Atomic Taco/Flickr

Erschienen in Die Welt (PDF) | Online

Die Flüchtlings- und die Dieselkrise haben Parallelen: Die große Koalition handelt nicht sachgerecht und glaubt, dass die Probleme sich von selbst lösen. Schön wär’s

Es war purer Zufall, dass sowohl die Dieselkrise als auch die Flüchtlingskrise im September 2015 voll zum Ausbruch kamen. Kein Zufall ist hingegen, dass bei der politischen und administrativen Bewältigung beider Krisen durch die Regierung die gleichen Probleme in Erscheinung getreten sind.

Diese Feststellung hat in einer Zeit, in der vor allem auf Seiten der CDU und der SPD viel zu viel vom „Stil“ als Ursache für die Abstrafung der GroKo durch die Wähler geredet wird, explosives Potential.

Die Wähler monieren ja weniger den Stil als die sachlich mangelnde Problemlösungskompetenz der GroKo-Parteien. Irgendwie verkommt diesen Parteien alles zum politischen Tanz. Außer Futter für Talkshows zu bieten, ist den Bürgern damit aber in keiner Weise geholfen.

Dieses Manko lässt sich an der vermeintlichen „Lösung“ der Dieselkrise bestens ablesen. Dort hat die Politik erst vor Jahren schlechte Gesetze gemacht und dann auf dieser Basis laxe Verordnungen erlassen. Der Nettoeffekt ist, dass die Automobilkonzerne – vor allem dank der erteilten „Typenzulassungen“ – trotz ihrer betrügerischen Machenschaften praktisch von Anfang an aus der juristischen Schusslinie waren.

Nachdem der Schaden eingetreten war, tat die gesamte GroKo (mit Ausnahme der beiden SPD-Umweltministerinnen) das Naheliegende. Sie versuchte, das Problem einfach auszusitzen. Man dürfe die Automobilindustrie wegen ihrer überragenden Bedeutung für den Standort Deutschland und der damit verbundenen Arbeitsplätze nicht zu hart angehen, hieß es seitens der Regierungsparteien.

Dass ein hartes Angehen gerade deshalb sachdienlicher gewesen wäre, weil es hier darum geht, eine Kernindustrie unseres Landes zukunftsfest zu machen, kam Merkel, Dobrindt, Scheuer, Weil und Co. nicht in den Sinn. Stattdessen stützten sie den wahnhaften Versuch, alles technologisch auf eine Karte zu setzen, den Diesel.

Nach Jahren des Kopf-in-den-Sand-Steckens hat die Bundeskanzlerin in der Dieselkrise nun auf einmal umgeschwenkt. Es ist gut, dass sie damit sie ihre de facto Rolle als oberste Schutzpatronin des VDA endlich abgelegt hat.

Allerdings beruht ihr Positionswandel nicht auf neuen sachpolitischen Einsichten. Ihre Motivation ist vielmehr rein taktischer Natur. Sie fürchtet um Volker Bouffier. Trotz guter Sacharbeit läuft die CDU in Hessen Gefahr, wegen des in Frankfurt verhängten Fahrverbots bei den anstehenden Landtagswahlen abgestraft zu werden. So viel zur Weitsichtigkeit der Bundesregierung.

Eine effiziente Lösung der Dieselkrise ist trotz allen fieberhaften Bemühens wegen der allzu laxen deutschen Rechtslage enorm schwer, wenn überhaupt möglich. Dabei spielt die unangenehme Frage, ob die bestehende Rechtslage von VW, Daimler & Co. nur fleißig ausgenutzt oder bewusst mitgeschaffen wurde (was sehr wahrscheinlich ist), eine erhebliche Rolle.

Noch erstaunlicher ist freilich, dass die „große“ Politik stolz einen Kompromiss verkündet, den die Industrie dann umgehend zerredet. Das war in Deutschland früher anders.

Das wirklich Erstaunliche an dem gesamten Vorgang ist der Vergleich mit den USA. Obwohl der politische Betrieb dort eindeutig von Konzerninteressen dominiert wird, ist die Lösung in der Sache aufgrund von Regressansprüchen und Rücknahmeverpflichtungen sehr viel verbraucherfreundlicher ausgestaltet als in Deutschland. Das ist der eigentliche, mit der Dieselkrise verbundene politische Schock.

Die Parallelen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise liegen auf der Hand. Hier hat die Politik noch die Chance, die Dinge ins Lot zu bringen. Allerdings operieren auch bei dieser Zukunftsfrage große Teile der deutschen Politik auf dem Prinzip Hoffnung. Um Dynamik vorzugeben, verweist man auf zwischenzeitliche Verschärfungen der Rechtslage. Davon ist aber in der Praxis so gut wie nichts zu spüren.

Also tut die Politik so, als ob sich das Problem irgendwie von selbst lösen wird, obwohl man – nicht anders als beim Diesel – genau weiß, dass dies nicht der Fall sein wird.

Der Kern des Problems ist die aktuelle Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis. Ihretwegen ist die von Regierungspolitikern den Bürgern gegenüber immer wieder verkündete Absicht, Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber auf breiter Basis durchzusetzen, nicht zu bewerkstelligen.

Das wird mittel- und langfristig – jenseits des in der Sache durchaus gebotenen und begrüßenswerten „Spurwechsels“ für beruflich qualifizierte, abgelehnte Asylbewerber – sehr problematische Konsequenzen haben. Denn ein erheblicher Prozentsatz dieser de facto-Wirtschaftsflüchtlinge wird mangels hinreichender Alphabetisierung und Qualifizierung trotz allen Schönredens nicht in der Lage sein, auf dem deutschen Arbeitsmarkt seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Die daraus folgende Daueralimentierung dieser Personen ist faktisch ein Konjunkturprogramm für die AfD, das sich niemand ernsthaft wünschen kann.

Unter diesen Vorzeichen ist es kein Wunder, dass die Bürger die Hoffnung auf Besserung verlieren. Es ist nach der faktischen Enteignung durch die vollkommen inkompetent gehandhabte Dieselkrise der zweite Schlag in den Geldbeutel.

Demotivierend wirkt auch, dass die CDU in dieser Frage schon lange auf die Grünen schielt und nichts unternehmen will, was den avisierten künftigen Koalitionspartner irritieren könnte.

Das war ja auch der Grund, weshalb sich selbst Wolfgang Schäuble – in voreilendem Gehorsam — vor kurzem in einem Interview von den rechtsstaatlich gebotenen Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber faktisch verabschiedete. Kein Wunder, wenn die CDU weiter Stimmanteile verliert.

Grundsätzlich hapert es – wie zuvor in der Dieselkrise — an der rechtzeitigen Schaffung der in der Sache gebotenen rechtlichen Grundlagen. Es stellt eben keine Aushebelung des Rechtsstaatsprinzips dar, wenn man – wie in der Schweiz und den Niederlanden gängige Praxis – zeitliche Straffungen der Verfahrensdauer beschließt.

Dem steht vor allem das europäische Recht nicht entgegen, auch wenn dies immer wieder behauptet wird. Der EuGH postuliert allein das Recht auf effektiven Rechtsschutz. Wie der ausgestaltet wird, ist Sache der Mitgliedsländer. Andere Nationen leisten sich nicht Deutschlands absurden föderalen Luxus, 17 Verwaltungsgerichtsbarkeiten auf Länderebene mit 17 verschiedenen Beurteilungsmaßstäben zu haben. Andernorts werden die maßgeblichen Entscheidungen – etwa, was ein sicheres Herkunftsland ist – durch ein nationales Gericht festgelegt. Das ist effektiver Rechtsschutz.

Gleiches gilt in Sachen des zweiten deutschen Nirwanas, dass Kommunalbehörden für wesentliche Aspekte des Ausländerrechts entscheidungsbefugt sind. Das führt zu noch mehr systemischen Wirrwarr und widerspricht bei genauer Betrachtung dem Prinzip des effektiven Rechtsschutzes. Hiervon haben übrigens gerade auch die Flüchtlinge keinen Vorteil. Sie bleiben oftmals nur immer weiter in einem Schwebezustand.

Vor allem verhindert die anhaltende Scharade die Fokussierung auf die eigentliche Aufgabe, die zügige Integration jener, die einen Rechtsanspruch haben und die erforderlichen Sprachfertigkeiten und beruflichen Qualifikationen aufweisen.

Wenn dieser ganze Wirrwarr im Verwaltungsalltag endlich geordnet würde, dann würde man der AfD Wind aus den Segeln nehmen. Rhetorische Anbiederungen oder alternativ Attacken auf die AfD erreichen dieses Ziel erwiesenermaßen nicht.

Die operative Logik der Regierung macht nur aus der Warte rein parteipolitischer Überlegungen Sinn. Das gesamte „Narrativ“ der GroKo hängt ja von dem Manöver ab, die von Angela Merkel seit langem annoncierten Pläne zur Umverteilung der Flüchtlinge endlich EU-weit durchsetzen zu können.

Dabei ist eine solche Verteilung schon lange kein realistisches Unterfangen mehr. Zu groß ist der Widerstand dagegen in zu vielen EU-Partnerländern – und dass längst nicht nur in Osteuropa. Es ist allgemein bekannt, dass die meisten Flüchtlinge nach Deutschland wollen. Und die 27 EU-Partner haben damit keinerlei Problem.

Dies anzuerkennen, traut sich niemand in Berlin. Denn dann müsste man ja ernsthaft über administrative Konsequenzen nachdenken. Stattdessen wird in Berlin weiter fest an das Unmögliche geglaubt, genauso wie man gemeinsam, vom VW-Betriebsrat bis hin zur bayrischen Landesregierung, lange an das Aussitzen der Dieselkrise geglaubt hat.

Wenn man die Diesel- und die Flüchtlingskrise, aber auch die Energiewende betrachtet, gelangt man zu einer bedauerlichen Feststellung: Die Zeiten, in denen wir Deutsche bei der Bewältigung komplexer Herausforderungen reüssiert haben, sind vorbei. Diese Fähigkeit war auf eine besondere Kompetenz in puncto systemischem Denken zurückzuführen, die unsere Verwaltung, Politik und Industrie traditionell ausgezeichnet hat. Mittlerweile sind wir in derlei Dingen eher zu Hasardeuren geworden.

Diese Feststellung ist deshalb besonders frappierend, weil man gerade auf diesem Gebiet vermutet hätte, dass hier auf eine besondere Qualität der Bundeskanzlerin zum Vorschein kommen würde. Immerhin hat sie ihre Doktorarbeit auf dem Gebiet der theoretischen Chemie geschrieben.

Und wann immer man auf Wissenschaftler stößt, die mit ihr hochkomplexe Fragen diskutieren, sind sie mit Blick auf Angela Merkel durchweg beeindruckt hinsichtlich ihres Interesses am Detail sowie ihres Gesamtverständnisses bei der Diskussion komplexer Themen.

Was sind die Lehren?

Das Hineinrutschen in beide Ereignisse, die Diesel- und die Flüchtlingskrise, kam nicht über Nacht. Es beruhte auf einer langen Vorgeschichte des nicht Ansprechens, nicht Benennens, des so tun als ob. Oder anders ausgedrückt: Der politische Dialog zu Beginn wurde nicht geführt.

Es ist ein verhängnisvoller Politikstil, die Probleme erst nicht zu sehen, dann die kritischen Fragen zu zerreden und schließlich praktikable Antworten als „außerhalb des Diskurskorridors“ gelegen nicht zuzulassen. Dadurch stolpert man nur immer tiefer in die politische Unlösbarkeit hinein.

Wer politisch so rigoros und zugleich dümmlich operiert, wird vom Wähler in sehr rationaler Weise abgestraft. Statt sich an „Stilfragen“ des politischen Umgangs in der GroKo abzuarbeiten, sollte man mit Blick auf die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit in unserem Land wenigstens eines erkennen: Sowohl bei der Diesel- wie der Flüchtlingskrise prasseln die sich im Lebensalltag ergebenden Probleme hauptsächlich auf den Köpfen der wenig Begüterten nieder.

Sie sind es, die mit ihren alten Dieseln den Fahrverboten alternativlos ausgesetzt sind. Und sie sind es, die besonders der Wohnungsknappheit und Mietpreissteigerungen sowie dem Abstieg der Qualität der Schulen („Brennpunktschulen“) in ihren Stadtteilen ausgesetzt sind. Wenn sich diese Hauptgeschädigten dann zur Wehr zu setzen suchen, werden sie von der Politik prompt als Populisten und AfD-affin abgestempelt.

Das ist eine Attitüde, sich realer Probleme durch Schuldzuweisungen zu entledigen, die in der deutschen Geschichte an die späte Kaiserzeit und die damalige, hochherrschaftliche Verunglimpfung der legitimen Interessen der Arbeiterschaft erinnert.

Es kommt noch schlimmer: Mittlerweile erstreckt sich dieser Habitus zur Verunglimpfung und Delegitimierung seitens der GroKo mittlerweile auch auf die bürgerliche Mitte. Das ist politisch so kompetent und bis zur Verlogenheit selbstgerecht wie Wilhelm II. es war.

In Wirklichkeit geht es doch um etwas sehr Praktisches – die Lösung der aufgehäuften Probleme. Das zu fordern ist kein Populismus, sondern eine Erinnerung daran, warum Politik überhaupt existiert.

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