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Deutsche Corona-Politik – Die verblüffenden Parallelen zum Habsburgerreich

Erschienen in Die Welt (URL) | (PDF)

Die Pandemie hat schonungslos aufgedeckt, wie sehr sich Staat und politische Öffentlichkeit in unserem Land in den letzten 15 Jahren gegenseitig auf die Schulter geklopft haben. So wird ein Gemeinwesen innen morsch – wie ein Vergleich mit dem Habsburger-Reich zeigt.

Der italienische Schriftsteller Claudio Magris schrieb in den frühen 1960er-Jahren seine Doktorarbeit über den „habsburgischen Mythos“ in der österreichischen Literatur. Er konnte damals nicht ahnen, wie gut seine Analyse auf das politische Gebilde der Bundesrepublik Deutschland von heute passen würde.

Der Habsburger-Mythos beruht Magris zufolge auf drei verschiedenen Quellen: erstens dem Hang zum defensiven Hinausschieben von Konflikten, zweitens einem ausgeprägten Bürokratentum und drittens dem Hedonismus eines guten Teils der Bevölkerung.

Aus alledem ergibt sich das Bild einer neudeutschen Nachlässigkeit, die so gar nicht zur internationalen Wahrnehmung von uns Deutschen passt. Der zufolge handeln wir ja politisch hochrational und vor allem verwaltungstechnisch immer hocheffizient.

In den Niederungen der bundesdeutschen Realität haben wir es, von heldenhaften, aber hohlen Bekundungen der Entschlossenheit abgesehen, mit erstaunlichen Formen von Leichtsinn, Unverantwortlichkeit, Statusdünkel, Selbstverliebtheit und Eskapismus zu tun.

Berufsbedingt lieben Politiker Krisen. Sie geben ihnen die perfekte Gelegenheit, sich tatkräftig in Szene zu setzen. Allerdings sind sie zugleich um ihre Popularität besorgt. Daher schauen sie vor der Verkündung von Entscheidungen dem Volk intensiv aufs Maul. Auf dieser Basis machen sie im Wechselrhythmus entweder strikte oder entspannende Verhaltensgebote, je nachdem, wie groß das Bedürfnis der Mehrheit des Volkes nach Sicherheit verleihender Strenge gerade ist. Eine Strategie ist das nicht.

Ein konkretes Beispiel für diese Vorgehensweise war der Dezember-Lockdown, der als besonders hart verkündet wurde. In Wirklichkeit handelte es sich damals wohl eher um die Operettenversion eines Lockdowns. Operette auch deshalb, weil sich die Politik den langen Sommer über in der Bekundung von kulturellen Überlegenheitsgefühlen hervorgetan hatte. À la: Wie gut haben wir als Nation die Epidemie (d. h. die erste Welle) im Vergleich zu unseren EU-Partnern bewältigt. Unter solch selbstglorifizierenden Vorzeichen wurde die eigentliche Aufgabe versäumt, die Verwaltung, die Schulen und das Land mit Hochdruck auf das schon damals klare Bevorstehen der zweiten Welle vorzubereiten. Von wegen Vorsicht ist die Mutter der deutschen Porzellankiste.

Was der Verlauf der Pandemie bis hin zum aktuellen Impfstoffdesaster indes schonungslos aufdeckt, ist, wie sehr sich Staat und politische Öffentlichkeit in unserem Land in den letzten 15 Jahren gegenseitig auf die Schulter geklopft haben. Dafür trägt dann niemand mehr Verantwortung.

So wird etwa gerne davon gesprochen, dass unsere Gesundheitsämter „überlastet“ sind. Das wäre für Jens Spahn, den nach eigenen Beteuerungen innovationsorientierten Bundesgesundheitsminister, eigentlich die perfekte Gelegenheit gewesen, in Wahrnehmung der Koordinationsfunktion des Bundes frühzeitig zu intervenieren.

Das Prinzip „Glaube, Liebe, Hoffnung“

Zum Beispiel hätte er mittels eines an einem Wochenende veranstalteten Hackathons für die Gesundheitsämter einen effizient gestalteten, bundesweit anwendbaren Online-Mechanismus zur Nachverfolgung entwickeln lassen können. Das hätte die jüngere Generation von Programmierern in unserem Land gewiss nachhaltig motiviert.

Stattdessen operieren Merkel, Altmaier und Spahn auf dem Prinzip „Glaube, Liebe, Hoffnung“. Aber auch Olaf Scholz hat die Pandemie vor allem dazu genutzt, sich häufig PR-trächtig in Szene zu setzen. Allerdings mehr als sozialdemokratischer Säusler und freigebiger Herr aller Staatskassen denn im Einklang mit dem „Macher“-Image eines Finanzministers. Jenseits aller heroischen „Wumms“-Ankündigungen ist Scholz’ tatsächliche Performance bisher eher mau gewesen.

Die Verwaltung arrangiert sich

Weite Teile der Verwaltung haben sich mit dem laxen Aktionismus der Politik gekonnt arrangiert. Die Versprechen der Politik bleiben ja meist nur sehr allgemein und unspezifisch. So galt zum Beispiel in puncto Durchsetzung von Quarantäneanordnungen nach internationalen Reisen bequemerweise das Prinzip der Selbstverantwortung. Wenn man das Menschen erzählt, die in asiatischen Ländern unseres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes leben, dann fragen die schlicht, wozu wir dann überhaupt noch eine Verwaltung haben.

Zur Nachlässigkeit der Verwaltung verleitet auch das interministeriell bevorzugte Geschäftsmodell der Berliner Republik. Dieses hat dazu geführt, dass Koordinations- und Planungsarbeiten – also das eigentliche Stammgebiet der Bundesbürokratie – wegen eigener „Arbeitsüberlastung“ zunehmend privaten Beratungsfirmen übertragen werden, und zwar vorzugsweise für Budgets mindestens im zweistelligen Millionenbereich. Dass man sich durch damit verbundene, freihändige Auftragsvergaben die Türen für eigene lukrative „Nachverwendungen“ eröffnet, wenn die ministerielle oder ministeriale Karriere ausgereizt ist, liegt auf der Hand.

Das Einzige, was bei der Pandemiearbeit Spahns „funktioniert“ hat, war die PR-Kampagne. Schön, wenn – getreu dem Geschäftsmodell der Berliner Republik – wenigstens die von Ministerien beauftragten Agenturen ordentlich verdienen. Zielführend ist das nicht.

Der eigentliche Skandal besteht freilich in der Nonchalance, mit der die von der Verwaltung selbst zu verantwortenden Passivitäts- und Nichtstunsskandale geflissentlich unter den Teppich gekehrt werden. Das gilt zum Beispiel für die Digitalisierung der Verwaltung oder der Schulen. Fünfzehn merkelsche Jahre von hehren Wahlkampfversprechungen – und geschehen ist bei diesen elementaren Themen so gut wie nichts.

Auch dass so viele Alters- und Pflegeheime mangels WLAN nach wie vor technologisch vorsintflutlich ausgestattet und somit auch jenseits des Virus von der Außenwelt abgeschlossen sind, hat bis heute noch keinen erkennbaren Aktionsgeist ausgelöst.

Eine allumfassende Kompetenz wird vorgegaukelt

Nach dem Motto: Warum lange überfällige Reformen umsetzen, wenn man auf den „Föderalismus“ als Hemmnis verweisen kann? Und dennoch gaukeln Politik und Verwaltung auf rein rhetorischer Ebene eine allumfassende Kompetenz vor, die kaum von einem hohlen Hyperoptimismus zu unterscheiden ist.

Keine Frage: Ein großer Teil der Bevölkerung verhält sich vernünftig. Klar ist aber auch, dass es nicht der Politik bedarf, um auf diesen einzuwirken. Deren Kernaufgabe besteht ja darin, auf den Teil der Bevölkerung einzuwirken, der sich nicht an die Verhaltensmaßregeln hält und sich gerne figurativ taub gibt oder auf einmal vorgibt, die „Freiheit“ besonders zu lieben.

Wenn wir ehrlich mit uns wären, müssten wir uns eingestehen, dass wir in unserem Gemeinwesen weniger diszipliniert agieren als viele andere Nationen. Dafür geben wir Deutsche uns weiter als Weltenretter bei den großen Themen wie dem Klimawandel, Ungerechtigkeit und Rassendiskriminierung. Dass unter solch großsprecherischen Vorzeichen das täglich erforderliche Mikromanagement im staatlichen und halbstaatlichen Bereich vernachlässigt wird, welches ja erst den Spielraum für die „großen Themen“ verschaffen kann, liegt auf der Hand.

Eine unbewältigte „Reform“ nach der nächsten

So stolpern wir als Nation – im Einklang von Politik und Verwaltung – munter von einer unbewältigten „Reform“ in die nächste. Wir machen eine Energiewende die seit mindestens einem Jahrzehnt suboptimal verläuft. Wir schaffen ein Mautsystem, das Milliarden kostet, rechtswidrig ist und nicht funktioniert. Wir reden und reden. Aber die Politik ist eifrig bestrebt, all diese Missstände wegzudrücken und das Publikum mit den großen Gesinnungsthemen immer weiter abzulenken.

Wenn die Pandemie eines deutlich gemacht hat, dann dies: Das oben beschriebene, habsburgisch-pompöse Verhalten irritiert die Menschen in Deutschland mittlerweile doch, obwohl sie sich eigentlich schon gut an die Show gewöhnt hatten. Sie spüren, dass zu viel an Verantwortlichkeit bequem unter den Teppich gekehrt wird.

Die Corona-Pandemie stellt den wohl größten Zielkonflikt der Politik seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Diese ist eine Chance. Aber wenn wir diese Herausforderung jetzt nicht entschlossen nutzen, um umzusteuern, werden wir – so wie das Habsburger-Reich – innen immer morscher, je großspuriger das Theater seinen Lauf nimmt. Um dies zu verhindern, müssen wir grundlegend umdenken und auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft sehr viel mehr Verantwortungsdenken an den Tag legen. Nicht der gute Wille oder das Bemühen zählen, sondern einzig echte Resultate.

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