stephan-g-richter.de

Boris Johnson und Wilhelm II: Zwillinge der falsch verstandenen Souveränitätsanbetung

Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung (URL)

Für Boris Johnson spielt in der Brexit-Frage nur die Machterhaltung eine Rolle. Mit diesem fehlgeleiteten Antrieb ähnelt er Wilhelm II. Der letzte deutsche Kaiser hat damit sein Reich verspielt, Johnson könnte ähnliches passieren.

Redaktionelle Bemerkung: Der untenstehende Text reflektiert die Einigung, die Boris Johnson mit der EU am 17. Oktober 2019 erzielt hat. Die Einigung erfolgte kurz nach der Veröffentlichung des Textes in der FAZ.

Von ihrer Persönlichkeitsstruktur her könnten Boris Johnson, der 1964 als Alexander Boris de Pfeffel Johnson geborene heutige britische Premierminister, und Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser, der als Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen 1859 das Licht der Welt erblickte, nicht unterschiedlicher sein. Während Wilhelm alles daran setzte, niemals peinlich aufzufallen und immer alles unter Kontrolle zu haben, sind bei Johnson im grellen Licht der Öffentlichkeit zum Vorschein kommende Peinlichkeiten sein politisches Markenzeichen.

Lange Zeit hatte es den Anschein, als ob das politische Wirken dieser beiden charakterlich so verschiedenen Menschen für ihre jeweiligen Länder territorial zu einem ähnlich desaströsen Resultat führen könnte. Wilhelms Kombination von Starrsinn und Imponiergehabe zog bekanntlich das Ende der Monarchie in Deutschland und massive territoriale Verluste nach sich.

Johnsons Bereitschaft, mit der EU eine neue Vereinbarung zu wagen und nicht länger auf einen „No Deal-Brexit“ zuzusteuern, scheint – zumindest für den Moment – das Blatt gewendet zu haben. Wenigstens hat Johnson rechtzeitig die Kurve gekratzt und kann somit nicht weiter als bedenkenloser Hasardeur gelten.

Und dennoch könnte aufgrund der Unwägbarkeiten der britischen Innenpolitik und des abgrundtiefen Zwistes in der britischen Gesellschaft der Nettoeffekt von Johnsons pro-Brexit-Treiben sein, dass das Vereinigte Königreich auf einen Rumpfstaat England zurückschrumpft, auch wenn die Monarchie dort wohl im Unterschied zum Deutschen Reich Bestand haben dürfte. Mit Blick auf Schottland, Nordirland und sogar Wales jedenfalls ist es ja nicht der No Deal-Brexit, sondern der Brexit an sich, der die Einheit Großbritanniens aufs Spiel setzt.

Wie roh die Nerven in der britischen Politik liegen, kann man auch an Johnsons eigenen Worten ablesen. So sprach er mit Blick auf das Gesetz des Parlamentes, das einen „No Deal-Brexit“ verbietet, laufend von einem „Kapitulationsakt“. Auch wenn er dies tat, um seine Getreuen auf einen unnachgiebigen Kurs einzuschwören, ist der Weg von dort bis zur „Dolchstoßlegende“ nicht mehr weit. Obendrein haben sich manche „Konservative“ für einen Volksaufstand ausgesprochen, falls es nicht zum Brexit kommen sollte.

Auch wenn Johnson nun für sich reklamieren kann, einen Verhandlungs(aus-)weg gesucht zu haben, bleibt doch fraglich, ob er die Geister, die er mit seinem rüden Brexit-Manöver seit 2015 kreiert hat, wieder in der sprichwörtlichen Flasche einschließen kann. Daran hängt nun auch gerechterweise sein persönliches politisches Schicksal.

Grundsätzlich müssen sich Johnson und seine Mannen – ja, wie bei Kaiser Wilhelm II geht es da nur um Männer – und zudem um einen von Obsessionen getriebenen, sehr engen Zirkel von Insidern, ob ihr Wirken ihrer jeweiligen Nation wirklich zum Vorteil gereicht.

Wilhelm & Co. waren vor 125 Jahren bekanntermaßen darauf fixiert, dass die britische Marineflotte die des kaiserlichen Deutschland nicht länger an der Anzahl von Schiffen und deren militärischer Potenz übersteigen sollte. Das war für ihn schlicht unerträglich.

Er und seine statusbesessenen Admirale waren wie Kinder von der Aufgabe fasziniert, eine mindestens ebenso große Flotte zu bauen wie die Briten sie hatten. Denn dann, so ihre Logik, würde auch Deutschland seinen Platz an der Sonne haben und eine Weltmacht darstellen.

Boris Johnsons prinzipielle Obsession hingegen ist die Wiedererlangung der unbeschränkten Souveränität Großbritanniens. Er tut damit so, als ob eine solch absolute Form der Souveränität in der modernen Welt und im Zeitalter der Globalisierung überhaupt wiedererlangt werden könnte.

Was Boris und Wilhelm zudem eint, ist, dass sie so gut wie allen anderen Ländern gegenüber äußerst misstrauisch eingestellt sind. Als wahre Suprematisten glaub(t)en sie bedingungslos an die Überlegenheit der eigenen Nation.

Neben der Tatsache, wie sehr Johnson und sein Team von der inneren Struktur und Ausrichtung her dem Wilhelms ähneln, lohnt es sich für die Briten, die eigentliche Ursache für Wilhelms katastrophales Scheitern genau zu erkennen. Es beruhte bekanntermaßen auf zwei Faktoren – extremem Gruppendenken und einer Fixierung auf die falschen Statistiken.

Wenn Wilhelm und seine Männerriege sich auf die richtigen Statistiken fokussiert hätten, wären ihnen schnell klar gewesen, dass Deutschland den eigentlich relevanten „Krieg“ bereits so gut wie gewonnen hatte. Und Wilhelm und seine Mannen hätten vor allem erkannt, dass die Größe der nationalen Schlachtschiffflotte schon damals ein eher rückwärtsgewandter denn ein zukunftsträchtiger Indikator war.

Anstatt auf vergleichende Marinegrößen fixiert zu sein, hätten sich Wilhelm und seine Mannen umfassend damalige Wirtschaftsstatistiken ansehen sollen. Auf diesem „Schlachtfeld“ nämlich machte Deutschland – obwohl noch ein relativer Neuling als eigene, vereinte Nation – sehr solide Fortschritte. Das Land baute dynamisch eine erstklassige Infrastruktur auf und legte so die Grundlage für einen breit angelegten allgemeinen Fortschritt. Und die Investitionen in Bildung und Wissenschaften schlugen sich in einer immer potenteren Industrialisierung sowie in Nobelpreisen in diversen Disziplinen nieder.

Mit anderen Worten, in dem Wettbewerb, der wirklich zählt, weil er den Wohlstand und das Wohlbefinden einer Nation bestimmt, waren die Deutschen alles andere als ein Zwerg. An dieser entscheidenden Stelle brachte das kaiserliche Deutschland stringent zukunftsrelevante Faktoren zum Einsatz. Diese bestanden unter anderem in einer überlegenen Form der industriellen Organisation, einem starken Fokus auf die Produktivität, hohes Innovationspotenzial und allgemeinen Fleiß.

Wenn es bloß einen einzigen weisen Mann in Wilhelms Gefolgschaft gegeben hätte, der auf diese Wirtschaftsstatistiken nicht nur hingewiesen hätte, sondern sie adäquat eingeordnet hätte, hätte der deutsche Kaiser vielleicht einsehen können, dass er buchstäblich auf das falsche Schlachtfeld fixiert war.

Boris Johnson versucht zwar aktuell in verantwortungsbewusster Weise, sich von den mentalen Sandkastenspielen seines Herrenclubs zu befreien, welche die Selbstzerstörung der Nation, so wie sie bisher als „Vereinigtes“ (sic!) Königreich verfasst ist, bewusst in Kauf nimmt.

Während Wilhelm von der größten Marine auf den Weltmeeren träumte, schwelgen Boris und die Brexiteers frohen Mutes von den Zeiten, als die Briten die größte Marine hatten und die ganze Weltkugel ausnutzen konnten, um überall Handelsvereinbarungen zum eigenen Vorteil durchzusetzen.

Dass diese Zeiten unwiederbringlich vorbei sind, weiß wohl auch Boris Johnson. Aber das ist ihm egal. Ihm geht es vor allem um die persönlichen Attribute der politischen Macht. Und da seine Wähler nun einmal in den Träumen von vorvorgestern schwelgen, sieht Johnson keinen Anlass, sie aus diesen Tagträumereien zu erwecken.

Johnson geht es in erster Linie immer nur darum, einen besonderen persönlichen „Kick“ zu erleben. Dementsprechend spielt Johnson – trotz seiner partiellen Brüsseler Kehrtwende – weiterhin mit dem Feuer.

Die 93-jährige Königin Elisabeth II., die sich aktuell im 68. Jahr ihrer Regentschaft befindet, muss um den Fortbestand ihres Vereinigten Königreiches fürchten. Johnson setzt dieses aus parteipolitischem Machtkalkül bewusst aufs Spiel. Denn er will vor allem England regieren, die Tories an der Macht und für sich eine lange Zeit als Premierminister – natürlich alles in umgekehrter Prioritätenreihenfolge.

So ficht es Johnson nicht weiter an, wenn sich Schottland mit seinen 7% der Bevölkerung und seinen 7% am Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens verabschieden wollte. Dieses gleiche Kalkül trifft auf Nordirland umso mehr zu. Sollte es sich aus dem Vereinigten Königreich verabschieden wollen, würde das Prokopfeinkommen des Landes sogar ansteigen.

PS: Dieser Punkt wird am eindrücklichsten in einem schwarzgelederten, goldgeprägten Festband zum Gedenken an den 10. Jahrestag der Thronbesteigung von Wilhelm II. nach Hause getrieben. Das im Juni 1898 im Deutschen Verlagshaus in Berlin erschienene 442-seitige Buch enthält auf Seite 107 eine Grafik mit Deutschland als Zwerg und England als Riesen (was die Anzahl der Marineschiffe angeht).

Die mobile Version verlassen