stephan-g-richter.de

ARD Presseclub: Brexitdrama ohne Schlussakt – Schlechte Wahl für Europa?

SR

Erschienen in ARD Presseclub

Moderator: Jörg Schönenborn, WDR Fernsehdirektor

Q: Was übersehen wir beim Brexit?

6:28 – 8:28: Stephan Götz Richter

Ich glaube, es ist ganz entscheidend zu beachten, dass es gar nicht um den Brexit geht, sondern in Wirklichkeit um die Frage der britischen Identität. Alle, die in der Bundesrepublik aufgewachsen sind, erinnern sich daran, dass das lange auch bei uns eine wichtige Frage war.

Als ich damals durch England getrampt bin, wurde ich gefragt: “Du kommst aus Deutschland? Ihr seid die komischen Leute, die sich mit der Frage nach der eigenen nationalen Identität herumschlagen.” Und jetzt, wo diese Diskussion bei uns weitgehend abgeschlossen ist, haben die Briten bei sich zuhause mit diesem Problem zu kämpfen.

Woran liegt das? Weil die britische Gesellschaft seit langem völlig unbefriedet ist. Wichtige sozialpolitische und wirtschaftspolitische Themen sind noch immer nicht gelöst. Als Theresa May zur Premierministerin gewählt wurde, hat sie 2016 zurecht gesagt hat: Ich will eine neue Tory Partei haben – eine, die inklusiv ist und nicht nur die Interessen der Londoner Londoner Finanzeliten und des Süden des Landes vertritt, sondern die auch für den Rest des Landes etwas tun will. May wollte die Tories öffnen. Sie wollte die wirtschaftliche Produktivität des Landes verbessern und es mehr im Sinne eine deutschen sozialen Marktwirtschaft gestalten, damit das Land als Ganzes vorankommt und nicht nur die Reichen sich weiterbedienen.

Das waren tolle Pläne. Leider ist da bis heute nicht passiert. Schlimmer noch, das Land hat sich noch mehr entzweit. Und der martialische gesellschaftspolitische Konflikt grassiert weiter. In Großbritannien gibt es keine effektiven Gewerkschaften, keine smarte Mitbestimmung. Die Finanzvorstände der Unternehmen und die Märkte bestimmen weiterhin alles — zocken Geld für sich ab und tragen dafür Sorge, dass bei den normalen Arbeitnehmern eher wenig ankommt.

Kein Wunder, das Leute dann, wenn auch irrational, für den nicht näher spezifizierten Brexit sind. Einfach weil sie sich davon einen positiven Wandel ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage erhoffen.

Hinzukommt, dass Pressebarone wie Herrn Murdoch und die Barclay Brüder – die in Steuerparadiesen leben – seit 20 bis 30 Jahren Propaganda gegen Europa machen. Warum?

Nicht so sehr, weil sie gegen Europa an sich sind. Sondern weil dieses Europa den Briten Arbeitnehmerrechte, Urlaubsrechte und derartige Dinge verschafft hat, die aus Großbritannien selbst nicht einmal unter Tony Blair erreicht worden sind. Kein Wunder, dass die Plutokraten gegen dieses Europa sind.

Jörg Schönenborn: Was ist das Sonderbare an der britischen Demokratie?

12:41 – 14:22: Stephan Götz Richter

Das interessanteste ist wohl diese Versessenheit auf den Gedanken: “Bei der nächsten Wahl kann ich meinen Abgeordneten feuern, um meinem Unmut richtig Ausdruck zu geben. Diese Einstellung reflektiert, dass das Land hauptsächlich immer noch ein Königreich ist und nur nachrangig eine Demokratie.

Warum? Das Gefühl, den eigenen Abgeordneten im Unterhaus feuern zu können, ist das maximale Maß dessen, worauf man als Bürger als Einfluss hat. Verändern tut sich damit nichts. London saugt weiterhin das Geld ab. Der Süden Englands blüht, der Rest des Landes bekommt wenig ab.

Natürlich gibt es in Großbritannien auch eine lebhafte Demokratie, die wir auch in der Bundesrepublik haben sollten. Denn eine Kanzlerin oder einen Kanzler, der dem Parlament nur viermal im Jahr wirklich Rede und Antwort stehen muss, ist ein Treppenwitz der Demokratiegeschichte.

Aber umgekehrt hat die britische Demokratie aufgrund ihrer konfrontativen Ausrichtung ein ganz großes Problem: das britische politische System funktioniert nur solange es ein Thema gibt, bei dem man rein binär entscheiden kann. Der Brexit ist aber ein Thema, das wie ein mit ja oder mit nein abstimmen kann mindestens sechs Dimensionen hat.

Und da zeigt sich die Unfähigkeit des britischen Parlamentes. Mit all der Komplexität, die dem Brexit innewohnt, kann man schlecht umgehen. Und so kommt es dazu, dass das heutige England politisch auf ein Niveau gekommen ist, das mitunter irrationaler und selbstzerstörerischer erscheint als die heutige populistische Regierung Italiens. Denn die argumentiert in politischen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen zumindest aus ihrer internen Sicht noch relative logisch und nicht selbstzerstörerisch.

Jörg Schönenborn: Glauben Sie auch, dass der Brexit Ende Oktober vollzogen wird?

20:20 -21:42: Stephan Götz Richter

Nein, das glaube ich nicht. Die Wahrheit ist sogar noch schlimmer. Man könnte eigentlich sagen. Sie lügen alle, oder: keiner erzählt die Wahrheit. Die deutsche Bundesregierung will den Brexit solange hinausziehen, bis die Briten erschöpft sind und den EU-Austritt nach Artikel 50 zurückziehen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vermeint das nicht zu wollen. Aber er hat machtpolitische Gelüste für Europa und dass die Franzosen in einer EU ohne Briten relativ mächtiger werden.

Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass die Zeitfrist bis Ende Oktober eine völlige Fiktion ist. Wir sollten Gelassenheit an den Tag legen und den Briten einfach den Spiegel vorhalten und sagen: “Ihr mit Eurer mother of all parliaments, der Mutter aller Parlamente, der größten und ältesten Demokratie der Erde, macht ihr mal. Wir machen jetzt keine Verlängerungen mehr, wir geben kein Datum mehr. Wir werden jetzt unsere Europäische Agenda weiter durchziehen und nicht mehr wegen ständiger Brexit-Beratungen auf Eis legen. Schickt uns einfach ein Rauchzeichen, wenn ihr euch in fünf Jahren oder drei Jahren oder sonst was irgendwie geeinigt habt. “

Ob der EU-Austritt bzw. wie er stattfindet, ist völlig unklar. Wir dürfen – ganz im Sinne von Macron – nicht länger bereit sein, von den Engländern als Geisel genommen zu werden.

Wir müssen auch auf neue Spielereien aufpassen. Wenn man sich etwa mit Londoner Eliten unterhält, hört man da auf einmal: „Das eigentliche interessante an der ganzen Brexit-Diskussion ist doch, wie die Deutschen und die Franzosen untereinander uneins sind.” Eine solche spalterische Attitüde wird historisch als „offshore balancing“ bezeichnet. Es ist das älteste Rezept des britischen Imperialismus — immer in Europa Zweifel zu säen.

Jörg Schönenborn: Warum ist die Brexit-Diskussion für uns so frustrierend?

25:17 – 26:30: Stephan Götz Richter

Überlegen wir doch einmal, was wir von den Briten historisch in positiver Hinsicht gelernt haben. Das ist vor allem der Pragmatismus – die Einstellung, in jeder Situation im materiellen Eigeninteresse zu handeln, und das über hunderte von Jahren. Darüber können Inder und Chinesen usf. bis heute schmerzvolle Kapitel in ihrer nationalen Geschichte schreiben.

Diese Idee des materiellen Eigeninteresses ist völlig verloren gegangen. Auf einmal geht es – eher wie bei uns Deutschen – ums Prinzip. Das, was den Wohlstand der Briten ausmacht, ist plötzlich viel weniger entscheidend. Gerade in der Industrie sind Produktivitätsfortschritte in Großbritannien in aller Regel immer mit dem Engagement ausländischer Firmen verbunden.

Wenn man jetzt mit dem Brexit noch die talentierten Ausländer aus Europa aus dem Land schafft, dann sinkt die Produktivität weiter ab. Das ist das letzte, was Großbritannien braucht. Unter solchen Vorzeichen gibt es kaum etwas umzuverteilen.

Jörg Schönenborn: Was bedeutet es für Europa, wenn die Briten im Mai an den Europawahlen teilnehmen?

31:27 – 33:03: Stephan Götz Richter

Zwei Punkte. Wenn man sich die britische Fraktion – gleich, ob Labour und auch Tories im Europäischen Parlament anguckt – ist erstens mein subjektiver Eindruck von verschiedenen Gesprächskreisen und Konferenzen: Diese MEPs sind weiblicher und jünger und smarter. Also sicherlich das Gegenteil von Rees-Mogg und anderen im Unterhaus.

Die EP-Abgeordneten nutzen diesen Job als Sprungbrett, um im nationalen Parlament eine Karriere zu machen. Viele sind sehr smarte Leute.

Der zweite Punkt – wenn ich ein Macron wäre, und der kann ja nachdenken, der mag sich manchmal in französischen Großmachtfantasien vergalloppieren, aber er denkt dann schon wieder nach — wenn ich also Macron wäre, sehe ich eine positive Chance für sein liberales Lager, wenn die Briten an der EP-Wahl teilnehmen.

Nicht zuletzt weil Viktor Orban nicht mehr in der konservativen EPP-Fraktion ist, kann es nach der Wahl eine Koalition geben zwischen ALDE – also Macrons Gruppierung, den Liberalen innerhalb des Parlaments – und den Grünen sowie den Sozialdemokraten.

Und ich glaube, für die europäische Sache wäre das gut. Herr Timmermans ist ein hervorragender Europäer und hat das Zeug zum effektiven Kommissionspräsidenten. Im übrigen hat er seinen sozialdemokratischen Instinkt sehr unter Kontrolle und würde zudem ja dann auch von den Liberalen sozusagen kontrolliert, so dass das eine sinnvolle Koalition darstellen könnte.

Jörg Schönenborn: Wie verändert sich die deutsche Rolle in der EU, wenn die Briten nicht mehr dabei wären?

36:55 – 38:31: Stephan Götz Richter

Man darf sich die Antwort auf diese Frage nicht zu leicht machen. Wir wissen, das etwa Macron und die CDU (auch unter AKK oder sonstwie aufgestellt) nicht übereinstimmen.

Wir wissen, dass selbst die Holländer gar nicht so sehr dagegen sind, wenn die Briten ausscheiden, weil sie Ambitionen haben, dann das Zünglein an der Waage zu werden.

Und Deutschland wird sich aller Voraussicht nach weiter verstecken, zum Beispiel hinter den Vorstellungen der von den Holländern angeführten Hanseatischen Liga. Deren Mitglieder werden sich so gut wie gegen alles stellen, was die CDU innerhalb Europas nicht haben will. Mit dieser passiven Einstellung machen wir Deutsche uns aber nicht irgendwie für die Zukunft Europas fähiger.

Was die Briten und den Brexit anbelangt, sollten wir das berühmte Menü von Herrn Barnier, dem EU-Unterhändler, nicht aus dem Auge verlieren. Er hat ‚mal gesagt hat :“Hier ist eine Tabelle. Ihr Briten sagt uns einfach, was ihr wollt, und dann können wir genau sagen, welchen Status ihr dann in eurem Verhältnis zur EU bekommt.“

Wenn jetzt aktuell gesagt wird, dass es nur eine Zollunion sein soll, begeben sich die Briten ironischerweise auf denselben Status, den die Türkei hat. Das wäre in der Tat eine große Ironie. Denn „die Türken“ waren ja im Brexitwahlkampf ein wichtiges Argument – getreu dem (falschen) Motto: wenn wir jetzt nicht für den Brexit stimmen, werden wir von Türken überlaufen werden. Der Verlauf der Geschichte hat schon so seine Ironien.

Die mobile Version verlassen